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Veröffentlicht am 14. Juni 2019 GrenznahBlog

Zu Fuß und mit dem Rad

Gespräch mit Hildegard und Ingrid Leser

Frau Leser, Sie sind 93 Jahre alt. Was war Plan (Planá) für eine Stadt, als Sie jung waren?
Hildegard Leser: Plan war wunderschön. Wir sind ins Hotel Zum schwarzen Bären ins Kino gegangen, dort wurde auch Theater gespielt. Das war für mich das Zentrum der Stadt, man hat dort gut gegessen, ich hatte dort auch Tanzstunden. Drei Häuser weiter war eine Bank, wo ich drei Jahre lang gearbeitet habe. Auf Deutsch hieß sie Landwirtschaftliche Bezirksvorschußkasse, auf Tschechisch Hospodářská záložna.

Ihre Familie lebte in Glitschau (Klíčov), wo sie einen Hof hatte. Nach Plan sind es über zehn Kilometer. Wie sind Sie damals in die Schule gekommen?
Hildegard Leser: Ich bin mit dem Rad gefahren. Ich ging auf die Bürgerschule, in eine Mädchenklasse. Wir hatten sehr liebe Lehrer. An der Schule unterrichteten zwei Brüder, Karl und Ernst Oschowitz. Uns hat der Karl unterrichtet, der nettere von beiden, sein Bruder unterrichtete die Jungen. Damals ging Mimi mit mir zur Schule, die zukünftige Sängerin, man hat sie die „Egerländer Nachtigall“ genannt. Wir saßen zusammen in der Bank. Die Schulbänke waren aufklappbar, und wenn der Lehrer jemanden aufgerufen hat, ist Mimi ein paar Mal unter der Bank verschwunden. Das war eine Persönlichkeit! Wenn sie sich über einen Lehrer geärgert hatte, klingelte sie in der Nacht an seinem Haus. Eine Lehrerin hat sie mal angeschrien und da rächte sich Mimi ganz böse und rief der Lehrerin nach „Brillenschlange, Brillenschlagen“. Während der Vertriebenentreffen nach dem Krieg hier in Mähring hat Mimi immer bei uns übernachtet. Dazu gäbe es noch eine Menge lustiger Geschichten zu erzählen. Also, ich bin morgens mit dem Rad nach Plan gefahren und am Nachmittag wieder zurück. Im Winter ging das aber nicht, deshalb habe ich immer ungefähr drei Monate im Jahr an verschiedenen Stellen in Plan in einem Zimmer gewohnt. Meistens in der Petersvorstadt. Wir haben zu dritt in so einem Raum gewohnt. Wir hatten eine Frau, die für uns kochte, von den Lebensmitteln, die wir von unserem Hof mitgebracht hatten. Sie hatte immer drei, vier Leute, für die sie gekocht hat. Nach dem Krieg habe ich in Tirschenreuth auch so für die Leute gekocht. Die Besitzer des Hauses, wo ich 1945 gewohnt habe, spielten Klavier. Dort hat uns die Rote Armee im Herbst 1945 das Haus geräumt. Die Besitzer haben sich zuerst von uns verabschiedet und als wir gegangen sind, haben sie Klavier gespielt.

Was haben Sie an Plan gemocht?
Hildegard Leser: Die Spaziergänge in der zweistündigen Mittagspause, Richtung der St.-Anna-Kirche und auf den Bohušov-Hügel (Bohuschaberg). Die Kirche auf dem St.-Anna-Berg war immer geöffnet. Es gibt wenige Städte mit so einer schönen Umgebung. Wir waren stolz auf das große Gebäude der Sparkasse, wo viele Leute arbeiteten. Im gleichen Haus hatte das Bezirksamt seinen Sitz. Unten war die Sparkasse, oben die Amtsräume. Das Plan meiner Jugend war eine schöne und wichtige Stadt.

Was haben Sie für Erinnerungen an die Wallfahrt zu St.-Anna?
Hildegard Leser: Wir sind von Glitschau aus zu Fuß gegangen und als Kinder waren wir den ganzen Tag bei der Wallfahrt. An der Kirche waren verschiedene Schausteller und Stände. Dort bin ich zum ersten Mal mit einem Karussell gefahren. Überall waren Leute, die sich miteinander unterhalten haben. Wunderbar.

Nach Plan ist es von Ihnen aus Bärnau eine halbe Stunde mit dem Auto. Wann waren Sie zum ersten Mal nach 1945 wieder in Plan?
Hildegard Leser: Erst 1975. Wir waren in Marienbad (Mariánské Lázně) untergebracht und sind dann nach Plan und nach Glitschau gefahren. In Marienbad sind wir am Abend tanzen gegangen. Dann war ich sogar in Marienbad zu einer Kur, im schönen Hotel Neues Kurhaus. Wenn ich so an den Weg von Marienbad nach Plan denke, fällt mir immer ein, wie wir mit dem Rad von Plan nach Marienbad zur Operette gefahren sind. Unsere Abendkleider hatten wir in einer Tasche am Fahrradgepäckträger festgemacht. Im Theater haben wir uns dann umgezogen. Es wurde Frau Luna gespielt. In der Nacht sind wir zurück nach Plan gefahren.

Mochten oder kannten Sie eine der damaligen Persönlichkeiten in Plan?
Hildegard Leser: Ich habe beispielsweise Herrn Hanika kennen gelernt, den Besitzer des Planer Elektrizitätswerks. Das war ein ehrenhafter und sehr lieber Mensch. Meine Cousine stand bei ihm in Dienst. Seine Villen beim Kraftwerk stehen heute noch. In Plan gab es gute Restaurants mit angenehmer Bedienung. Am Bahnhof waren gleich zwei davon. Das waren gut geführte Betriebe. Ich erinnere mich immer noch an Menschen aus der Stadt, die irgendetwas gut konnten. Zum Beispiel den tollen Anwalt, der nicht darauf gewartet hat, bis sie ihn vertrieben haben, sondern nach Wien gegangen ist. Aber auch Leute aus den Geschäften. Da fällt mir zum Beispiel die Fleischerei gegenüber der Sparkasse ein, dort hatte ich Freunde. Heute ist dort anstelle des Hauses ein leerer Platz mit einem Baum. Oder meine Mitschülerin Fini Braun, die in dem Barockhaus wohnte, in dem heute die Bibliothek ist. An das schöne Haus denke ich gerne zurück.

Wie war das nach dem Krieg? Sind Sie mit einem Transport direkt hierher nach Tirschenreuth gekommen
Hildegard Leser: Nein, ich habe nicht auf den Transport gewartet, ich bin schwarz über die Grenze gegangen. Damals war es so, dass in der Mittagspause Rotarmisten auftauchten und junge Leute aus Plan mitnahmen, natürlich Deutsche, zur Zwangsarbeit ins Landesinnere. Sie haben nicht gefragt, ob man will oder nicht. Dem wollte ich entgehen. Zusammen mit meiner Cousine haben wir uns entschieden, selbst zu gehen. In unserem Dorf lebte ein Mann, der sich an der Grenze gut auskannte. Wir haben gepackt, was wir tragen konnten und so sind wir zum ersten Mal nach Deutschland gekommen. Dann wollten wir aber noch etwas von zuhause holen und sind alleine zurück gegangen. Da haben sie uns erwischt. Irgendwo bei dem Ort Hals. Sie schrien: „Stehen bleiben! Stehen bleiben!“ Ich hatte 700 Mark dabei, meine Ersparnisse aus der Arbeit in der Bank. Meine Cousine hatte auch Geld dabei, aber sie hat es aus Angst sofort weggeworfen. Ich nicht. Wir kamen zu den Polizisten und sie fragten gleich „Haben Sie Waffen, Gold oder Geld?“ Ich holte meinen Geldbeutel hervor und sagte:

„Bitte, da sind 700 Mark drin.“ Der Gardist hat das Geld gezählt und es mir zurückgegeben. Dann kam ihr Kommandant, der hatte eine große Peitsche in der Hand. Er sagte zu uns: Diese Peitsche wird euch blühen, sollte ich euch noch einmal erwischen. Er hat uns nichts getan. Es war Oktober, es fing an zu schneien und wir sind nach Deutschland zurückgekehrt. Wir sind die ganze Nacht durch gelaufen und erst am nächsten Tag vor dem Mittag angekommen.

Ich wollte wieder in einer Bank arbeiten. Das klappte auch, ich bin in einer Privatbank in Tirschenreuth angenommen wurde. Aber als Haushaltshilfe beim Bankdirektor. Nicht als Bankangestellte, sondern als Putzfrau. Einmal, als ich frei hatte, habe ich etwas auf der Schreibmaschine geschrieben. Die Frau des Bankdirektors rief sofort „Was machen Sie da?“ Ich habe geantwortet, dass ich probiere, ob ich noch Schreibmaschine schreiben kann. „Sie sind hier nicht als Kontoristin, sondern als Haushaltshilfe angestellt“ war ihre Antwort. Der beste Satz, den ich dort gehört habe, war: „Hilde, es war eine Falte im Bettlaken, der Herr konnte nicht schlafen!“

Es gab dort einen Brotkasten. Mein Gott, hatten wir Hunger! Also nahm Hilde ein Messer und tat es in den Brotkasten.

„Wer hat das Messer da rein getan?“

„Hilde!“

„Weg mit dem Messer!“

Dann blieb eines Abends in der Kanne Kakao übrig. Ich habe ihn ausgetrunken. Einen Augenblick später kam die Chefin und sagte: „Den Rest Kakao gibt es zum Frühstück.“

Die Köchin antwortete:

„Das wird nichts, Hilde hat ihn schon ausgetrunken.“

Der Herrgott hat die Familie furchtbar gestraft. Einer ihrer Söhne ist im Krieg gefallen. Der jüngere Sohn Hubert war lieb, er kam immer zu uns in die Küche. Er hat viel geraucht. Und dann hat er sich einmal, das war schon später, im Bad eine Zigarette angezündet und ist gestorben, weil das Gas aus dem Gasboiler explodiert ist.

Ingrid Leser: An Hubert kann ich mich auch noch erinnern. Er war etwas sonderbar, erzogen wie ein Sohn besserer Eltern. Ich habe auch in einer Bank gearbeitet, in der Bayerischen Vereinsbank, die die Privatbank, in der meine Mutter arbeitete, übernahm. Hubert kam immer mit großen Umschlägen zu uns, weil wir in der Bank eine große Schreibmaschine hatten, in das breites Papier passte.

„Kann ich einen Briefumschlag beschriften?“

So fragte er immer und wir wussten, dass er noch ein paar Mal weggeht und wiederkommt, weil er irgendetwas vergessen hatte. Also zogen wir das Papier runter, machten einen Punkt und zogen es zurück. Hubert schrieb bis zu unserem Punkt und dachte dann, er hätte etwas falsch gemacht. Dann ging er einen neuen Umschlag holen.

Einige Familienerlebnisse wiederholen sich in anderer Form. Hubert starb in den siebziger Jahren. Meine Mutter und ich haben ihn dreißig Jahre lang gekannt. Aber um der Reihe nach zu erzählen – meine Mutter wurde nicht mit ihren Eltern zusammen vertrieben. Ihre Eltern wurden aus Glitschau ausgesiedelt, zusammen mit der Schwester meiner Mutter. Sie sind irgendwo oben in Hessen bei Gießen angekommen. Dort wollten sie aber nicht bleiben, die Leute dort waren evangelisch und sprachen einen ganz anderen Dialekt. Meine Mutter war im Bezirk Tirschenreuth und konnte daher Zuzug, also eine Familienzusammenführung, beantragen. So kamen auch die Großeltern aus Hessen hierher nach Tirschenreuth.

Also hat die zwanzigjährige Tochter den Umzug der Eltern organisiert?
Ingrid Leser: Genau. Sie haben einen Hof gepachtet und klein angefangen. Der älteste Sohn dieses Hofbesitzers war im Krieg gefallen, der andere Sohn ging zur Polizei. Die Großeltern hatten den Hof bis 1956, dann kauften sie dieses Haus. Hier in Bärnau. Mit sieben Rindern und zwei Schweinen betrieben sie eine kleine Landwirtschaft. Die Großeltern wussten mit Schweinen umzugehen, sie wussten, dass zwei Schweine reichen, um den Lebensunterhalt bestreiten zu können. Dann hatten sie noch ungefähr vierzig Hühner und zwanzig Kaninchen.

Sie haben Frühkartoffeln angebaut. Die haben sie dann an die Damen aus der Umgebung verkauft und ihnen bis in den Keller gebracht, um sie zu verwöhnen. Meine Eltern haben den Großeltern geholfen, meine Mutter arbeitete in der Bank, mein Vater als Buchhalter in der Knopffabrik. Alle mussten in der Landwirtschaft mithelfen, wenn das Heu gemacht oder die Kartoffeln eingebracht wurden.

Hildegard Leser: Ja, das stimmt alles. Aber das Wichtigste war, dass die Familie wieder an einem Ort vereint war. Und dass sie versuchte sich wieder etwas aufzubauen. Das war schwer, denn es gab fast nur Ruinen zu kaufen, wir sagten dazu „Bruchbuden“. Die Frau, von der wir das Haus hier kauften, sagte damals, dass sie es nur an Leute verkaufen will, die es so weiterführen, wie sie es geführt hat. Mein Vater war Bauer, er hat dieses Haus gefunden und es gekauft, dazu gehörten fünf Hektar Land.

Ingrid Leser: Hier haben alle zusammen gewohnt, die Großeltern, meine Eltern, der Großvater hat noch seine Schwester hergeholt. Deren Familie war zuvor nach Ostdeutschland gekommen, nach Magdeburg. Kurz vor 1953 ist es gelungen, sie hierher zu bringen. Dann wurden es langsam weniger auf dem Hof. Die Schwester meiner Mutter heiratete, die Cousine auch. Meine Mutter wollte auch weggehen, nach Weiden. Aber sie konnte nicht, irgendwer musste das hier ja machen. Also ist sie geblieben, heute sind das schon über 65 Jahre.

Hildegard Leser: Heute kann sich niemand mehr vorstellen, wie meine Eltern arbeiten mussten. Mein Mann war Buchhalter, wir haben in Tirschenreuth geheiratet. Er hatte keine feste Stelle, einmal haben sie ihn dort angestellt, dann wieder ein Stückchen weiter weg. Die Arbeit hing an den Eltern, und wir haben ihnen geholfen, wo wir konnten. Erst nach vielen Jahren hat mein Mann Arbeit hier in Bärnau bekommen. Er ist gestorben, als ich fünfzig war, er war sieben Jahre älter und hatte einen Herzinfarkt. Seitdem lebe ich allein. Kämpfen, kämpfen, immer alleine. Ich führte dann nach meiner Verrentung noch mein Maklerbüro, als ich schon weit über achtzig war. Mein Vater ist mit 98 gestorben, bis 94 war er vollkommen in Ordnung. Das Durchhaltevermögen liegt also in der Familie.

Ingrid Leser: Mein Großvater hat mir viel über die Heimat erzählt. Nicht über die Politik, aber wirklich über die Heimat. So habe ich eine Beziehung zu Tschechien aufgebaut. Durch seine Erzählungen habe ich mich dort auch zuhause gefühlt. Ich bin ihm dankbar, dass er nicht auf die Tschechen geschimpft hat, auf die Vertreibung, auf die Politik. Manchmal sagte er: „Stellt euch vor, was aus uns geworden wäre, wenn sie uns hätten bleiben lassen. Da würde ich schon nicht mehr leben, weil ich die Klappe nicht hätte halten können. Seid froh, dass wir in Freiheit leben. Unser Unglück hat sich als Glück herausgestellt. Wir konnten als freie Menschen neu anfangen.“

Mein Großvater sah alles positiv und fuhr in die alte Heimat, sobald es wieder möglich war. Im Gegensatz dazu hat die Schwester meiner Mutter gesagt: „Sie haben uns verjagt, dort fahre ich nie wieder hin.“

Hildegard Leser: Als sich mein Vater von unserem Zuhause verabschiedete, sagte ihm der Verwalter auf unserem Hof, dass er uns gern wieder sehen würde. Mit dem Verwalter hat sich mein Vater nicht mehr treffen können, denn er ist nicht in Glitschau geblieben, sondern nach Hause in die Slowakei zurückgekehrt. Er hat gesehen, was in der Grenzregion los war und hat das nicht ausgehalten. Im Nachbarhaus wohnte der Verwalter Herr Novotny. Der ist dort geblieben. Als alle Deutschen weg waren, ist er in das leere Schulgebäude gezogen, wo er bis nach der Wende gelebt hat.

Mein Vater hat ihn dort einmal besucht. Wir waren in Glitschau und plötzlich war mein Vater verschwunden. Dann kam er auf einmal aus der Schule, die Hände voll Kuchen. Ich fragte ihn:

„Wo warst du?“

„Bei Novotny, wir haben uns ausgesprochen und jetzt können wir beide sterben.“

Herr Novotny kam nicht aus dem Haus, wenn er meinen Vater sah, weil er angeblich nicht von ihm hören wollte, in was für einem schlechten Zustand das Dorf sei. Mein Vater ist wiederrum auch nicht zu Novotny gegangen, weil er nicht wusste, was über ihn im Dorf erzählt wurde, denn er war der letzte deutsche Bürgermeister gewesen, also Bürgermeister unter den Nazis. Deshalb ist mein Vater erst nach der Wende das erste Mal in die Heimat gefahren. „Wenn mich der Herrgott schon so lange am Leben ließ, dann muss ich wenigstens noch mal in die Heimat fahren“, sagte er. Und dann sind wir oft dort gewesen. Von den Geschenken zum 90. Geburtstag ließ er dann in Glitschau die Kapelle erneuern und es wurde gemeinsam mit den Tschechen gefeiert. Das war ein ganz tolles Dorffest.

Ingrid Leser: Ja, der Großvater gab damals jedem Haus einen Brotkorb aus Stroh, den er geflochten hatte. Die Großmutter starb, als der Großvater 83 war.

„Was kann so ein Mann mit 83 Jahren machen, damit er den anderen nicht auf die Nerven geht?“, fragte er uns. Also haben wir ihn gefragt, was er früher im Winter auf dem Hof gemacht hat. „Da habe ich Brotkörbe geflochten“, antwortete er.

„Aber das geht nicht mehr, weil es nicht mehr so langes Stroh gibt.“ Ich hatte aber in Tirschenreuth sehr konservative Bekannte, die noch alles manuell machten, sie banden Strohgarben, arbeiteten mit dem Dreschflegel, wobei eben langes Stroh entstand. Die waren dann unsere Zulieferer. Vom Stroh musste man noch die äußerste Schicht abziehen, aber das war nur ein weiteres Problem, das wir lösen konnten. Der Brotkorb wird mit Bast aus Fichtenwurzeln gebunden. Den hatten wir nicht, also fing der Großvater mit gewöhnlichem Bindfaden an. Dann haben wir mit einem Korbmacherverein Kontakt aufgenommen. Die haben uns dann geliefert, was wir brauchten. Mein Großvater hat dann Brotkörbe geflochten, bis er 95 war. Fast jeden Sonntag sind wir mit ihm auf historische Handwerkermärkte gefahren, die Brotkörbe hatten so einen Absatz, dass der Opa eine Fabrik hätte aufmachen können.

Sie waren aber auch in Australien und an vielen anderen Orten. Sie haben nicht nur zwischen der neuen und alten Heimat ihrer Eltern gelebt, was im Prinzip zwei nur etwa 30 Kilometer voneinander entfernte Orte sind, sondern haben viel von der Welt gesehen.
Zuerst war ich ein Jahr in England, ich wollte für eine Weile weg. Ich habe in Tirschenreuth in der Bank gearbeitet, aber ich durfte nur hinten die Buchhaltung machen. Zu der Zeit, Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts, haben sie Frauen noch nicht nach vorne an die Schalter gelassen, wo ich gerne gearbeitet hätte. Als ich zurück gekommen bin, habe ich überlegt was ich mit dem Englisch anfangen könnte. Also habe ich in Banken in Nürnberg und München gefragt, aber sie haben Englisch nirgendwo gebraucht. Dann habe ich ein Inserat gefunden, dass die Bank of America jemanden mit Englischkenntnissen für die Arbeit am Schalter sucht. Also bin ich damals nach München gezogen, habe es dort aber nur drei Monate ausgehalten. Das Wort Mobbing wurde damals noch nicht benutzt, aber zu den Schikanen, die dort an der Tagesordnung waren, hätte das genau gepasst. In den drei Monaten war ich an der Kasse diejenige, die es am längsten aushielt. Ich hatte den Wunsch, zu unterrichten, zum Beispiel Schreibmaschine schreiben. Dann haben sie aber Englischlehrerinnen gesucht. Zwei Jahre habe ich studiert, damit ich Grammatik und Literatur lehren konnte. Ich habe gut gesprochen, aber erklären konnte ich nichts. Dann hatte ich einen schweren Unfall, der mich für eineinhalb Jahre völlig aus der Bahn geworfen hat. Als ich wieder auf den Beinen war, habe ich als Englischlehrerin an der Volksschule in Tirschenreuth angefangen. Da war ich dann 37 Jahre lang und habe mich nebenbei mit dem Thema Heimat und Tradition bis heute beschäftigt, nach dem alten Sprichwort „Lerne deine Heimat kennen, dann erst kannst du sie eigen nennen.“ Jede Ferien habe ich dafür genutzt, in ein englischsprachiges Land zu fahren. Nach Australien, nach Irland, nach Amerika. In Australien hatte ich Lust länger zu bleiben, aber es bestand die Gefahr, danach nicht in den Schuldienst zurückkehren zu können. Und das war eine Frage der Absicherung im Leben. Deshalb bin ich nur in den Ferien gefahren. In Amerika war es auch sehr schön, aber ich habe sehr schnell festgestellt, dass ich in so einem Land nicht leben könnte. In Australien wäre ich geblieben. Aber ich war nicht bereit für einen kompletten Neuanfang. Als die Großeltern noch lebten, war es möglich für längere Zeit wegzufahren, dann nicht mehr.

Wir kommen von Australien wieder zurück an die deutschtschechische Grenze. Da würde mich die St.-Anna-Wallfahrt interessieren. Eine Heilige und drei Feste in zwei Ländern – wie soll man sich da auskennen?
Ingrid Leser: Meine Mutter war bei den Wallfahrten in Mähring von Anfang an dabei, ich seit meiner Kindheit.

Hildegard Leser: Die Menschen sind hierhergekommen, weil es nah an der Grenze war. Wir haben uns eine neue St.-Anna gebaut. Die Kirche in Mähring ist heute über 60 Jahre alt. Das erste Fest fand hier 1952 statt und schon ein Jahr später wurde die Kapelle gebaut. Sie wurde auf einer Anhöhe errichtet, damit man nach Plan schauen konnte. Hinter dem Bau der Kapelle standen fünf mutige Männer, die die St.-Anna-Wallfahrt auf dieser Seite der Grenze wiederbeleben wollten. Wir haben auch für den Bau gespendet und geholfen, Spenden zu sammeln. Manche Leute haben Geld für die Herstellung eines Fensters gespendet. Alle haben mitgeholfen, das war toll. Dann wurde die Kapelle erweitert und der ursprüngliche Bau wurde zur Apsis der neuen Kirche. Über 4000 Menschen sind hierher zur Wallfahrt gereist, viele Reisebusse. Wir hatten immer ein volles Haus, sogar in der Scheune haben die Leute übernachtet. Ich bin zu allen Nachbarn gegangen und habe versucht, die Menschen unterzubringen, die immer mehr wurden. Bis Mitternacht. Und die Leute in der Nachbarschaft hatten Verständnis dafür. Ich bin von Haus zu Haus gegangen und habe zum Beispiel die Kinder überredet, dass sie für die Gäste ihre Zimmer räumen.

Ingrid Leser: Meine ersten Erinnerungen daran habe ich ungefähr mit fünf, wie sie mich durch die Massen von Erwachsenen gezogen haben. Zuerst hat ein Bunker auf dem Hügel als Aussichtsplatz gedient, der Aussichtssturm bei der Kapelle ist erst später gebaut wurden. Nach der Heiligen Messe, die draußen stattfand, gingen alle auf den Berg und schauten in eine Richtung. Als Kind habe ich mir gesagt: „Was kann dort nur sein?“ Einige weinten, fielen sich um den Hals. Ich habe das nicht verstanden. Ich wusste nur, wenn sich der St.-Anna-Tag näherte, war die Oma nervös. Und dann erinnere ich mich an die Menschen, die auf Matratzen auf dem Boden schliefen. Für die Kinder war das ein besonderes Erlebnis, abends wurde gesungen und getanzt. Zur Prozession kamen Bischöfe und Priester, von denen der Opa erzählt hatte, dass es wichtige Würdenträger seien. Es waren auch Mönche zu sehen, die früher im Kloster in Tepl (Teplá) lebten. Aber mich hat natürlich am meisten interessiert, wann ich die „Zuckerwurst“, eine Süßigkeit, bekomme. Oder ob ich Kokoswürfel bekomme. Das war für mich als Kind wichtig. Als ich älter wurde, kam das Karussell an die Reihe. Dann habe ich angefangen zu verstehen, worum es eigentlich geht. Aber das emotionale Band zu der Sache hatte ich schon, als ich mich noch bemühte, das alles zu verstehen. Ich habe auch viel dadurch gelernt, weil ich bei uns sehen konnte, wie man so eine große Veranstaltung plant. Die Vorbereitungsgespräche liefen natürlich auch bei uns ab.

Warum wurden nach der Wende das Tirschenreuther Fest und die Veranstaltung der Sudetendeutschen nicht zusammengelegt? Heute finden drei Veranstaltungen statt, eine sudetendeutsche, die Tirschenreuther und eine tschechische.
Ingrid Leser: Wir jüngeren Sudetendeutschen wären froh, wenn sich die Veranstaltungen annähern würden. Wenn zum Beispiel die Tschechen am Sonntag zu uns über die Grenze kommen würden, denn die großen Feierlichkeiten zum St.-Anna-Tag in Plan finden am Freitag statt. Die Sudetendeutschen haben hier in Mähring viel Energie und Liebe investiert. Und auch viel Geld. Es ist klar, dass das barocke Original in Plan ist. Aber das hier ist mittlerweile auch schon ein Stück Geschichte, aus der Zeit, als man nicht über die Grenze durfte. Der Herr Pfarrer Witt aus Tirschenreuth hat einmal davon gesprochen, dass er die Wallfahrt aus Tirschenreuth zur Planer St.-Anna-Kirche schon 1985 ins Leben rufen wollte. Deshalb hat sie dann auch sofort nach der Wende stattgefunden. Der Boden dafür war schon vorbereitet, der Gedanke war schon am Leben. Deshalb haben wir eine Heilige und drei Feste. Jedes dieser Feste hat seine eigenen Wurzeln und seine Berechtigung. Ich wüsste selbst nicht, wie man sie verbinden sollte, also das Original und der sogenannte Ersatzort. Aber wir sollten sicher öfter im Namen Gottes zusammen kommen.

Hildegard Leser: Na sehen Sie, jetzt wissen Sie alles…

Hildegard Leser starb eine Woche nach der Aufzeichnung dieses Interviews.

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