Deutsche Obstsuppe
Die Deutschen sind fleißig, gründlich, diszipliniert und pünktlich, habe ich in einem Deutschlehrbuch gelesen, das mir eine tschechische Freundin geschenkt hat. Wahrscheinlich haben die Autorinnen damit sogar recht. Nur auf der Autobahn habe ich oft den Eindruck, dass viele meiner Landsleute undisziplinierte Wettrennen fahren. Vielleicht deswegen, damit sie noch pünktlicher als pünktlich sind.
Die Lektion, die mit der Beschreibung des deutschen Nationalcharakters eingeleitet wird, befasst sich allerdings mit dem korrekten Grüßen. Während man in Tschechien ohne Rücksicht auf die Tageszeit stets nur „dobrý den“ sage – so die Autorinnen –, differenziere man in Deutschland ordentlich zwischen „Guten Morgen“, „Guten Tag“ und „Guten Abend“.
Hauptsächlich aber finde ich das Sprachlehrwerk in kulinarischer Hinsicht interessant. Immerhin drei der insgesamt 15 Kapitel sind den unterschiedlichen Essgewohnheiten in Tschechien und den deutschsprachigen Ländern gewidmet, und bald stellt sich der Eindruck ein, dass die Verfasserinnen von der Küche ihrer böhmischen Heimat nachhaltig traumatisiert wurden und in Deutschland die Erlösung fanden. Die deutsche Küche, konstatieren sie, sei gesünder, man esse mehr frisches Obst, gedünstetes Gemüse und fast keine Knödel. Zugegeben, auch ich erschrecke hin und wieder über den Berg von knedlíky, der in vielen tschechischen Gasthäusern als Beilage serviert wird, und meide Gerichte, die „mit Knödelvariationen“ auf der Speisekarte stehen; andererseits aber lebe ich hier in einer Gegend, in welcher der Knödel mindestens „kindskopfgroß“ sein muss, anderenfalls wird er dem Wirt an den Kopf geworfen. Bestimmt haben die Lehrbuchautorinnen intensiv Norddeutschland bereist – dort hält man Knödel für eine bayerische Perversion, manche sprechen auch von Kartoffelschändung.
„Wie ist die tschechische Küche?“ wird in einem Übungskapitel gefragt. Die korrekte Antwort gemäß Lehrbuch lautet: „Schmackhaft, aber zu fett und zu süß.“ Nächste Frage: „Wie ist die deutsche Küche?“ – „Gesünder als die tschechische Küche.“ Gestaunt habe ich erst bei Frage und Antwort Nummer drei: „Welche Suppen isst man in Deutschland im Sommer gern?“ – „Im Sommer isst man in Deutschland gern kalte, süße Obstsuppen.“
Ich habe bis jetzt, wenn ich für Urlaubsreisen etwa eineinhalb Jahre abziehe, fünfzig Jahre meines Lebens in Deutschland verbracht, doch eine Obstsuppe ist mir noch niemals und nirgends angeboten worden. Und wenn, dann hätte ich sie nicht gegessen, weil ich zwar Obst, aber keine Süßspeisen mag.
Was ich dagegen sehr gern mag, ist der tschechische tatarák, und würde ich ein Tschechischlehrbuch schreiben, so würde ich ihm ganz bestimmt ein Kapitel widmen. Man leidet als Deutscher nämlich unter einem schlimmen Knoblauchkomplex. Keinesfalls darf man hierzulande Knoblauch zu sich nehmen, wenn man vorhat, sich an den folgenden drei Tagen außerhalb des Familien- oder engen Freundeskreises zu bewegen.
In Tschechien dagegen kann man sich ohne schlechtes Gewissen an jedem beliebigen Tag, zu jeder beliebigen Uhrzeit einen tatarák bestellen, zu dem mindestens vier geröstete Brotscheiben mit ebenso vielen Knoblauchzehen gereicht werden. Mir gibt das ein so erlösendes Gefühl, als wäre ich wieder ein Kleinkind, das ungehemmt im Matsch spielen darf. Und dafür lasse ich jede deutsche Obstsuppe stehen, egal, ob es sie gibt oder nicht. Dass ich sie mir vorstellen kann, genügt mir völlig.