Mit Tschechisch durch die Ukraine
Meine Freundin und ich bekamen eine Einladung nach Charkiv, Nürnbergs Partnerstadt in der Ukraine. Bald reifte in uns der Plan, die offizielle literarische Mission um einen inoffiziellen Teil zu erweitern: Per Flugzeug bis Lviv und von dort aus mit einem Mietwagen 1.000 Kilometer quer durchs Land.
Nachdem die Flüge und der Mietwagen gebucht waren, wurde ich von Freunden und Verwandten auf beunruhigende YouTube-Videos aufmerksam gemacht, die prekäre Situationen im ukrainischen Straßenverkehr zeigen, oder muskelbepackte Herren mit nacktem Oberkörper, die vorführen, wie sie mit der bloßen Hand Nägel in ein Brett schlagen. Eine gewisse Zuversicht schöpfte ich einzig aus meinem naiven Vertrauen in die Verwandtschaft der slawischen Sprachen sowie daraus, dass ich in meinen jungen Jahren einen Anfängerkurs Russisch an der Volkshochschule besucht hatte. Zwar kann ich kaum noch ein Wort sprechen, aber wenigstens die kyrillischen Schriftzeichen entziffern.
Als wichtigste Sätze merkte ich mir „Wir kommen aus Deutschland“, „Haben Sie ein freies Zimmer?“, „Was kostet das?“ und „Kann man hier rauchen?“, wobei mir ukrainische Bekannte davon abrieten, den ersten Satz zu verwenden – „ihr müsst sonst den doppelten Preis bezahlen“, behaupteten sie. Diese Äußerung bestärkte mich in meinem Entschluss, in kritischen Situationen nur Tschechisch zu sprechen.
Um es gleich vorwegzunehmen: Eine eindeutige Bilanz lässt sich leider nicht ziehen. Manchmal funktionierte mein Tschechisch so gut, dass man mich für einen Polen hielt, andere Male wieder war überhaupt keine verbale Kommunikation möglich, obwohl ich mein Tschechisch von Tag zu Tag mit immer mehr ukrainischen Vokabeln würzte und auch versuchte, die eher nüchterne tschechische Intonation dem singenden ukrainischen Tonfall anzupassen.
In einem Lokal in Umaň blieb der Kellnerin und uns nichts anderes übrig, als Tierstimmen zu imitieren, da wir die „kačka“ auf der Speisekarte als „Katze“ (tschechisch kočka) missinterpretierten – tatsächlich handelte es sich aber um Ente, während Katze, wie wir jetzt wissen, „kiška“ heißt. Bei dem Polizisten, der uns stoppte, weil ich im Kreisverkehr die Vorfahrt missachtet hatte, verschaffte mir mein tschecho-ukrainisches Esperanto immerhin gewisse Sympathiepunkte, so dass wir mit einem verhältnismäßig geringen Bestechungsgeld von zehn Euro davonkamen, doch den größten Erfolg im Sinne der Völkerverständigung konnte ich im Gespräch mit einer Bäuerin verbuchen, die am Straßenrand Pilze feilbot – ein Gespräch, das es verdient, an dieser Stelle festgehalten zu werden:
– Guten Tag, wir sind Touristen aus Deutschland. Ist das die Straße nach Čyhyryn?
– Touristen? Von wo? Seid ihr aus Amerika?
– Nein, aus Deutschland.
– Aus Deutschland? Und da kommt ihr mit dem Auto, um euch die Ukraine anzusehen?
– Ja, warum nicht? Es ist schön hier.
– Aus Deutschland! Mit dem Auto! Und ihr versteht Ukrainisch! Das freut mich so, dass wir uns unterhalten!
– Kennen Sie Deutschland?
– Nein, das ist ja so weit weg! Habt ihr meine schönen Pilze gesehen? Wollt ihr nicht welche kaufen?
– Sehr schöne Pilze, aber das geht leider nicht. Wir können keine Pilze kochen.
– Ihr könnt doch lernen, wie man Pilze kocht. Das ist nicht schwer!
– Nein, ich meine, wir wissen, wie man das macht, aber wir haben ja keine Küche dabei. Geht es hier nach Čyhyryn?
– Ja, nur noch drei Kilometer, dann seid ihr da. Ihr seid aus Deutschland, und wir können uns richtig unterhalten! Das freut mich so!
Ich kann nur vermuten, dass die junge Landfrau bis an ihr Lebensende die feste Überzeugung haben wird, dass Deutsch wie eine stark fehlerhafte und rudimentäre Variante des Ukrainischen klingt. Aber, wie gesagt: eine eindeutige Bilanz, wie Tschechisch in der Ukraine funktioniert, lässt sich leider nicht ziehen, außer vielleicht dieser: ohne Tschechisch hätte die Reise nur halb so viel Charme gehabt.
Elmar Tannert