Gulasch im Kopf

Ende August machte ich mit drei Freunden eine mehrtägige Tour durch tschechische Kleinbrauereien, die zu einer wahrhaften Entdeckungsreise wurde. Die Broschüre, an der wir uns orientierten, „Bierpfade durch die Region Pilsen“, gab nämlich nicht annähernd wieder, was uns erwarten sollte: Eben nicht nur das, was man dem typischen Touristen als „Gastronomie“ verkaufen kann, sondern auch versteckte Hinterhofbrauereien, deren komplette Einrichtung aus Improvisation besteht. Dort kredenzt der Braumeister persönlich die Biere – und was für Biere! Insbesondere das Weißbier war eine Offenbarung. In Bayern hatte ich schon jahrelang keins mehr getrunken, weil ich stets nach nur wenigen Schlucken das Gefühl hatte, eine vollständige Mahlzeit zu mir genommen zu haben, die mir noch wochenlang auf den Rippen bleiben wird. Die tschechischen Weizenbiere dagegen fanden wir allesamt erfrischend leicht, spritzig und elegant, mit einer Fülle von feinen fruchtigen Geschmacksnoten.
Am vierten Tag unseres Ausflugs trafen wir gegen Abend in der Dorfschenke von Čižice ein, bereits etwas angeschlagen von der vorausgegangenen Degustation acht verschiedener Biere in Dobřany, darunter ein sage und schreibe 23grädiges, das fast schon einen Grenzfall zwischen Bier und Bierlikör darstellte. In Čižice sollte ich im weiteren Verlauf des Abends die mündliche B2-Prüfung nach dem Europäischen Referenzrahmen für Fremdsprachen ablegen, wobei „B“ in diesem Fall auch als Abkürzung für „Becherovka“ zu verstehen ist. Doch davon ahnte ich noch nichts, als ich den Gastraum betrat und bei einem schnauzbärtigen Herrn von der Statur eines Hufschmieds die ersten Biere orderte. Außerdem eine Kofola – einer von uns musste ja fahrtüchtig bleiben.
Nachdem wir die vier verschiedenen Hausbiere je zweimal durchprobiert hatten, wurde es ein wenig kühl auf der Lokalterrasse, und meine Freunde schlugen vor, auf ein letztes Bier in die Gaststube zu gehen. Fröhliche Fraternisierungsrituale mit der Stammtischrunde vorausahnend, sprach ich entsprechende Warnungen aus, die leider nicht ernst genommen wurden.
Es gibt Situationen, in denen man ungern recht behält – dies war so eine. Kaum hatten wir Platz genommen, gesellte sich der erste Herr des Stammtischs zu uns, setzte sich mir gegenüber und bot an, die erste Runde Schnaps auszugeben. Als ehemaliger Kellner eines Hotelrestaurants verfügte er über gewisse Deutschkenntnisse, dennoch wechselten wir bald ins Tschechische und unterhielten uns zunächst über sein Augenleiden, seine Familie und seinen Lebenslauf, später über Frauen und mit ihnen zusammenhängende Intimitäten, die nicht in diesen Blog gehören. Mithilfe des Becherovka förderte ich Vokabeln aus meinem Kopf zutage, von denen ich gar nicht mehr wusste, dass ich sie jemals gelernt hatte.
Ein zweiter Gast nahm links von mir Platz und versuchte, auf Deutsch mit meinen Freunden ins Gespräch zu kommen. Nach einigen weiteren Runden Becherovka spürte ich, wie meine sprachliche Kondition inmitten des Durcheinanders allmählich nachzulassen begann. Lag es an den Starkbieren, die wir in Dobřany verkostet hatten? Oder daran, dass die Aussprache meines Gesprächspartners immer undeutlicher wurde? Mir fiel eine Formulierung ein, die Jana gern verwendet, wenn sie sich von der deutschen Sprache überfordert fühlt, und die gut zu meiner Situation passte – „Gulasch im Kopf haben“.
„Už víc nemůžu! Mám guláš v hlavě!“ verkündete ich also. „Es wird Zeit, dass wir uns verabschieden!“ Nur einen Augenblick später bereute ich meine Äußerung. Die Pranke des Herrn zu meiner Linken krachte auf meine Schulter. „Hoho!“ schrie er begeistert, „guláš v hlavě! Habt ihr das gehört? Guláš v hlavě! Haha! Der kann ja wirklich richtig Tschechisch!“ Es folgte noch sehr vieles, was ich nur fragmentarisch verstand; später, auf der Rückfahrt zum Hotel, behaupteten meine Freunde, der fröhliche Zecher habe einen von uns mit seiner Tochter verheiraten wollen, ebenso gut wäre aber auch möglich, dass er uns zu einer Degustation selbstgebrannter Schnäpse zu sich nach Hause einladen wollte. Nur eines weiß ich ziemlich sicher: Von Gulasch im Kopf werde ich so bald nicht wieder sprechen.