Beerdigen oder auf den Arm nehmen?
Vor einigen Tagen wurde ich von meiner tschechischen Bekannten, nennen wir sie Jana, mit einem Stapel Lektüre versorgt, die meinem Niveau angemessen ist. Hauptsächlich Kinderbücher also. Aber auch sie konfrontieren mich mit dem Problem, dass der tschechische Wortschatz offenbar sehr reichhaltig ist; vielleicht werden aber auch, extra für Ausländer, immer wieder neue Wörter erfunden.
Zuletzt stolperte ich über das Werb „pochovat“ in dem Satz „Maminka chtěla Honzíka pochovat“. Das Grundverb „chovat“ war mir schon einmal im Sinn „sich benehmen“ begegnet, „schovat“, „verstecken“, kannte ich ebenfalls, doch unter „pochovat“ konnte ich mir nichts vorstellen. Ich schlug nach und fand: 1. beerdigen, begraben; 2. auf den Arm nehmen. Nach kurzem Zögern rang ich mich dazu durch, dem Eintrag Glauben zu schenken, und dachte eine Weile über diese mysteriöse Doppelbedeutung nach, vor allem darüber, wie oft sie in Tschechien schon zu tragischen Missverständnissen geführt haben mochte.
Gut, bei dem kleinen Honzík, der auf der Illustration quicklebendig aussah, gab es keinen Zweifel, dass Mama ihn wirklich nur auf den Arm nehmen und nicht ins Grab legen wollte, aber waren nicht auch weniger eindeutige Situationen denkbar? Ich beschloss, bei unserem nächsten Treffen im Café |Jana zu fragen.
Am Tag der Verabredung kam sie eine Viertelstunde zu spät. „Schön, dass du doch noch kommst“, sagte ich. „Ich dachte schon, du hast mich versetzt.“ Sie sah mich verwundert an, und bald stellte sich heraus, dass sie zwar das Sprichwort vom Glauben kannte, der Berge versetzen kann, und auch wusste, dass man vom Chef in eine andere Abteilung versetzt werden kann, aber dass man auch jemanden versetzen kann, indem man zu einer Verabredung nicht erscheint, war ihr neu. Damit erübrigte sich die Frage, die ich ihr eigentlich hatte stellen wollen, und in mir wurde eine dunkle Ahnung zur Gewissheit.
Das wirklich Schwierige am Tschechischen sind nicht die sieben Fälle, die man in Deutschland gern als Schreckgespenst heraufbeschwört, wann immer von der Nachbarsprache die Rede ist, sondern es ist paradoxerweise genau das, worin es dem Deutschen sehr ähnlich ist. In beiden Sprachen lassen sich nämlich die einfachen Grundverben mittels harmloser Vorsilben zu unübersichtlich vielen neuen Bedeutungen erweitern. So kann man bekanntlich seinen Hut absetzen, einen Betrag von der Steuer absetzen oder ein Staatsoberhaupt absetzen; die Polizei kann einen Zeugen vernehmen, aber ich kann auch ein Geräusch vernehmen; jemand kann mir den Weg verstellen, aber auch seine Stimme verstellen; und genauso schöne Überraschungen halten auch die tschechischen Verben bereit, wenn nicht sogar noch schönere.
Da hilft nur üben, um sie in den Griff zu kriegen. „Chceš si mě pochovat?“ fragte ich also kühn, „willst du mich auf den Arm nehmen?“, als Jana mir von einer geradezu unglaublichen Pechsträhne auf dem letzten Ausflug in die Heimat erzählte, und konnte an ihrer Miene sofort ablesen, dass ich etwas Unpassendes gesagt hatte. Leider heißt „pochovat“, wie ich erfuhr, wirklich nur „auf den Arm nehmen“, und nicht auch noch, wie im Deutschen, „an der Nase herumführen“. Ob ich mich doch lieber gleich beerdigen lassen sollte?
Elmar Tannert