Die Sprachbarriere in der Einkaufstasche
Neulich war ich bei Schneetreiben im Nürnberger Süden unterwegs und suchte eine Adresse. Verzweifelt versuchte ich, ein Schild mit einem Straßennamen zu finden.
Da sprang mir eine Buchstabenkombination ins Auge, die mir irgendwie tschechisch vorkam: „rbststr“. Rbststr? Ich hielt an, stieg aus und betrachtete das Schild, das vom Schnee halb verdeckt war, genauer. Die vollständige Aufschrift lautete: „Herbststraße“ – ein deutsches Wort also mit nicht weniger als sieben Konsonanten hintereinander. Was hatte ich da nur in meinem vorletzten Blogbeitrag geschrieben? „Tschechisches Konsonantengehölz“? Eine Weile gab ich mich der Hoffnung hin, es könnte sich bei der Herbststraße um einen einmaligen Ausnahmefall handeln, doch bald fielen mir weitere bedrohliche Wörter ein, Wörter wie „Durststrecke“ oder „Blitzschlag“, „Wolfsschlucht“ oder „Herzschrittmacher“. Warum hatte ich nie Probleme gehabt, „rststr“, „tzschl“, „lfsschl“ oder „rzschr“ auszusprechen, aber beim Anblick der Wörter „srdce“, „pstruh“ oder „zrcadlo“ panische Angst bekommen?
Ein paar Tage später saß ich mit einer tschechischen Bekannten im Café. Wir treffen uns alle paar Tage, plaudern teils tschechisch, teils deutsch, soweit die Kenntnisse tragen, und klagen zwischendurch darüber, wie schwer doch die Sprache des anderen sei. Beim Abschied verabredeten wir, uns übernächste Woche wieder zu treffen. „Was heißt ‚übernächste Woche‘ auf Tschechisch?“, fragte ich und war über die Antwort „přespříští týden“ entsetzt. „Přespříští?“, wiederholte ich mühsam. „Welcher Mensch soll sowas aussprechen?“ Im selben Moment fiel mir die Herbststraße ein. „Gut, wir haben auch schwierige Wörter, aber …“ Sie unterbrach mich. „Oh ja! Ihr habt so furchtbar lange Wörter … Wörter wie, zum Beispiel, ‚Unternehmensberater‘ … und am allerschlimmsten ist:“, sie holte noch einmal tief Luft, „‚Ajn-ká-ufs-ta-še‘!“
Ich traute meinen Ohren nicht. Einkaufstasche? Unternehmensberater? Lieber sage ich doch fünfzigmal „Unternehmensberater“ oder „Einkaufstasche“ als ein einziges Mal „srdce“ oder „zrcadlo“ … aber immerhin weiß ich jetzt, dass sich die sogenannte Sprachbarriere aus tschechischer Sicht ganz woanders befindet, als ich sie vermutet hätte. Nicht in der Herbststraße, nicht in einer Wolfsschlucht, sondern in der Einkaufstasche eines Unternehmensberaters, und, wer weiß, vielleicht auch im Štá-ub-sáu-ger-boj-tel eines Špíl-áu-to-má-ten-lo-kál-in-há-bers oder in der Šré-ber-gár-ten-láu-be eines Šráu-ben-cí-her-her-štel-lers.
Elmar Tannert