Warten Sie!
Ich stand eines Abends an einer roten Fußgängerampel in der Americká in Pilsen, weit und breit war kein Auto zu sehen, und ich dachte darüber nach, wie ich mich korrekt verhalten sollte. Merkt man mir sofort den Deutschen an, wenn ich bei Rot stehenbleibe? Wie gehen die tschechischen Fußgänger mit dem Rotlicht um? Darauf hatte ich noch nie richtig geachtet, und ausgerechnet jetzt war keiner unterwegs, der mir als Vorbild hätte dienen können. Da sah ich an der Ampel in leuchtender Schrift die Aufforderung „Čekejte!“, „Warten Sie!“, und augenblicklich nahmen meine Gedanken eine andere Wendung. Musste es nicht heißen „Počkejte!“? Genau das rufen auch die beiden römischen Offiziere, als Asterix und Obelix schon weit vorangeschritten sind: „Počkejte! Počkejte na nás!“ – „Wartet auf uns!“ Die Ampel schaltete auf Grün. Ich blieb stehen und durchdachte noch einmal alles von Anfang an.
Jedes tschechische Verb existiert gewissermaßen doppelt – einmal im vollendeten, einmal im unvollendeten Aspekt. Etwas Ähnliches gibt es im Deutschen auch. Bekommt zum Beispiel das Verb „bauen“ die Vorsilbe „er-“, so gilt es als „vollendet“, denn solange die Maurer noch beschäftigt sind, kann man keinesfalls sagen, sie hätten gestern das Rathaus von Neustadt „erbaut“. Nur ist im Tschechischen die Sache leider noch ein wenig komplexer. Sage ich (unvollendet) „čekám“, so heißt das: „Ich warte jetzt, und das Warten hat noch kein Ende gefunden“, sage ich aber (vollendet) „počkám“, so betrifft das die nahe Zukunft: „Ich werde warten“. Das erscheint einem Deutschen zwar nicht unbedingt logisch, doch die Folge, die sich daraus für Aufforderungen ergibt, leuchtet ein: Will ich auf tschechisch sagen „Warte!“, dann sage ich „Počkej!“, denn eine Aufforderung kann ja nur in der nahen Zukunft ausgeführt werden. Will ich aber sagen „Warte nicht!“, heißt es „Nečekej!“, denn für das Nicht-tun von etwas braucht es auch keine Zukunft.
So jedenfalls verstand ich die Faustregel, die besagt, dass der positive Imperativ mit dem vollendeten, der negative mit dem unvollendeten Verb gebildet wird. Inzwischen hatte die Ampel schon mehrmals zwischen Rot und Grün umgeschaltet, und ich stand immer noch da und dachte nach. Der Imperativ „Čekejte!“ konnte doch eigentlich nur heißen „Warten Sie unvollendet – also bis in alle Ewigkeit!“ Unwillkürlich sah ich mich nach einem Mahnmal um – „Zum Gedenken an alle diejenigen, die sich an dieser Stelle zu Tode gewartet haben, weil die Grammatik es ihnen befahl“ – konnte aber keins entdecken. Ich starrte zum „Uctívaný velbloud“ hinüber, dem Lokal, in dem ich schon längst Platz genommen hätte, wenn die unvollendete tschechische Gegenwart mich nicht daran gehindert hätte, und dachte an die ganz und gar nicht verwandt wirkenden Geschwister „vzít“ und „brát“, die beide „nehmen“ bedeuten und in den Lehrbuchlektionen gern bei Tisch vorkommen. Im einen Lehrwerk sagt der Gastgeber „Vezměte si!“, im anderen „Berte si!“ Beide Male werden die Gäste aufgefordert, zuzugreifen, im ersten Beispiel vollendet, im zweiten unvollendet. Welcher der beiden Gastgeber meint es wirklich gut? Wahrscheinlich keiner von beiden. Der, der „Vezměte!“ sagt, gönnt mir nichts, weil ich im Sinne einer vollendeten Handlung nur einmal zugreifen darf, und der andere will, dass ich mich in seiner unvollendeten Gegenwart überfresse.
Wieder war die Ampel rot. Plötzlich stand ein Mann neben mir und wartete. Ich sprach ihn an. „Können Sie mir das vielleicht näher erklären? Ich habe da gerade, haha, es klingt vielleicht ein bisschen komisch, ein Problem mit ‚Čekejte‘ und ‚Počkejte‘ …“ Er sah mich groß an. Die Ampel schaltete um. „Nekecej!“ sagte er und überquerte die Straße. Nekecej? „Kec“ heißt soviel wie „Quatsch“, das wusste ich. Aber ist das Verb vollendet oder unvollendet? Sollte ich nie wieder quatschen – oder nur jetzt nicht? Wie hatte er das nur gemeint? Ich fragte lieber nicht nach und begab mich ins Kellergewölbe des „Velbloud“, aus dem ich Stunden später volltrunken wieder nach oben kroch. „Jen koštujte dál, pane!“ hatte nämlich der bei jedem ungefragt servierten Bier wiederholte Imperativ des Kellners gelautet, und wie hätte ich angesichts der grammatikalischen Sorgen, die ich zu ertränken hatte, ablehnen sollen?
Elmar Tannert