Bin ich schön?
Jede Sprache hat ihre ganz eigenen Lücken, die man normalerweise gar nicht bemerkt. So ist mir erst am Tschechischen aufgefallen, dass Sprachen richtige Namen haben können. Woanders behilft man sich meist mit dem Adjektiv, das zum Substantiv erhoben wird – aus français wird le français, aus español wird el español, aus deutsch wird das Deutsche. Im Tschechischen hingegen sind alle Sprachen durch echte Substantive vertreten – francouzština, španělština, němčina, čeština. Weibliche Substantive, um genau zu sein.
Bald nach dieser Entdeckung sah ich Čeština vor mir, wie sie sich vor mir in Pose stellte und sich dabei langsam im Kreis drehte, als führte sie ein neues Kleid vor, und ich hörte sie fragen: “Bin ich schön?”
“Liebe Čeština”, sagte ich, “du bist unvergleichlich. Du bist ganz anders als all die anderen, die ich in meinem Leben kennengelernt habe.”
Sie sah mich ungnädig an. “Ob ich schön bin, will ich wissen!”
Sie fragte nicht nur aus Eitelkeit. Auch aus verletztem Stolz. Oft hatte man sie schon schwarz auf weiß gekränkt. Beim österreichischen Schriftsteller Fritz von Herzmanovsky-Orlando etwa kann man lesen, dass es sich bei Tschechisch um die Erfindung eines habsburgischen Hofnarren handle, der die Aufgabe hatte, einen krankhaft schwermütigen Prinzen aufzuheitern. So etwas hinterlässt Wunden, die mit Komplimenten balsamiert werden wollen.
Dann gibt es noch Rivalinnen wie Madame Francouzština, die Sonnenkönigin, der seit Jahrhunderten die Verehrer zu Füßen liegen. Die weiß von ihren Lücken nichts, weil sie nur sich selbst kennt. Dass Arthur Schopenhauer ihr vorwarf, es mangle ihr an einem Verb für “stehen”, sie darüber hinaus als ekelhaften Jargon beschimpfte und als ein auf widrigste Weise verdorbenes Italienisch schmähte, hat sie schon längst vergessen – wenn sie es unter all dem Applaus, der ihr zuteil wurde, überhaupt gehört hat.
Muss man da als Čeština nicht bitter werden? Frauen wollen schön sein. “Ich habe an dir schon wunderbare Wörter entdeckt”, sagte ich also. “Eines von ihnen ist mlha. Der deutsche Nebel ist ganz und gar unromantisch und taugt gerade einmal zur Erwähnung im Wetterbericht, verglichen mit deinem geheimnisvollen, träumerischen mlha, und Madame Francouzštinas brouillard ist einfach nur eine dicke Suppe dagegen – eine Bouillon!”
“Du machst mich glücklich”, seufzte Čeština. “Mehr!”
“Um die Wahrheit zu sagen”, fuhr ich fort, “ich denke jeden Morgen unter der Dusche an dich. Nur beim Wort sprcha fühle ich nämlich das Wasser auf meiner Haut prasseln, als stünde ich unter einem Wasserfall. Dagegen klingt die deutsche Dusche nach purer Körperhygiene und genormten Wasserinstallationen.”
“Hast du noch mehr Lieblingswörter, mein Liebster?” gurrte Čeština.
“Oh ja! Viele! Nádraží zum Beispiel. Wenn ich Bahnhof höre, denke ich an Fahrplan, Ankunft und Abfahrt. Aber bei nádraží denke ich an die unbekannte, lockende Ferne … ich bekomme Sehnsucht, zu verreisen … und außerdem”, rutschte es mir heraus, “endet ein Wort wie nádraží im Singular in allen Fällen außer dem Instrumental auf -í! Das ist einfach wunderbar! Da muss man sich nicht so viele Endungen merken!”
Češtinas Augen funkelten. “Weißt du was? Wenn du mit Persönlichkeiten wie mir nicht zurechtkommst, dann bleib bei deiner Němčina und werde mit ihr glücklich!” Weg war sie.
Ob sie mir verzeihen wird, wenn ich mich weiter um sie bemühe? Aber was, wenn sie eines Tages wieder vor mir steht und mich fragt: “Liebst du mich?”
Die Antwort sollte ich mir schon heute gut überlegen.
Elmar Tannert