Erleuchtung durch Stromausfall
Am Anfang des Tschechischlernens steht Verwirrung, und die kann lang dauern. Bei den wenigen Malen, die man glaubt, in Chaos und Finsternis etwas Bekanntes aufblitzen zu sehen, muss man meist feststellen, dass man von einem Irrlicht genarrt wurde. Ein tschechischer „strom“ ist nicht das, was man als Deutscher unter Strom versteht, sondern ein Baum, „bude“ bedeutet nicht „Häuschen“, doch immerhin erlebt man mit dem Wort „kolik“ die angenehme Überraschung, dass es längst nicht so schmerzhaft ist wie im Deutschen.
Über ein Jahr lang kämpfte ich mit dem fremdartigen Wortschatz, bis sich am 29. Juni 2011 ein Unheil am Himmel über Schönsee zusammenbraute und dafür sorgte, dass der Blogbeitrag, den ich geschickt hatte, mit Verzögerung erschien. „Vypadl proud“, schrieb mir Zuzana Tejnická vom Centrum Bavaria Bohemia zwei Tage später. Vypadl proud? Was sollte das heißen? War das CeBB von heftigen Regengüssen überschwemmt worden? „Proud“ kannte ich als „Fluss“ oder „Strömung“ von meinem tschechischen Lucky-Luke-Heft „Proti proudu Mississippi“. „Pád“ wiederum, den Fall, kannte ich siebenfach aus der Grammatik. Auch die Vorsilbe „vy-“ war mir schon hie und da begegnet. Oft schien sie mit dem deutschen „aus-“ übereinzustimmen, wie bei „vystupovat“ für „aussteigen“. Kann „vypadl“ also „ausgefallen“ bedeuten? überlegte ich. Aber was ist ausgefallen? Der Fluss? Die Strömung?
Plötzlich stand mein Gehirn unter Strom und ließ mein bisher gelerntes Tschechisch in neuem Licht erstrahlen. Alle Wörter, die ich schon kannte, versammelten sich und zeigten ihr wahres Gesicht. Ich kannte bereits výlet, den Ausflug, und letadlo, das Flugzeug, aber erst in jenem mystischen Augenblick stand mir klar vor Augen, dass ein vý-let und ein Aus-flug wortwörtlich miteinander verwandt sind, dass die výloha, die ich als Schaufenster kennengelernt hatte, der Aus-lage entspricht und dass das tschechische Wort vývar nahelegt, dass „Brühe“ auf Deutsch eigentlich „Auskoch“ heißen sollte. Erst jetzt sah ich hinter časopis, předpis und podpis dieselbe Wortbildungslogik walten wie hinter Zeitschrift, Vorschrift und Unterschrift, sah, dass zwischen chyba und chybět dieselbe Verwandtschaft besteht wie zwischen Fehler und fehlen, sah noch Dutzende, hunderte von Zusammenhängen mehr und fragte mich, wie ich so lange blind durch die erstaunlich nah verwandte Nachbarsprache hatte irren können.
Bis heute habe ich mich bemüht, den Pfad der Erleuchtung nicht mehr zu verlassen, obwohl auch er nicht ganz frei von Hindernissen ist. Wenn etwa der tschechische Maigret in dem Kriminalroman „Maigret a dlouhé bidlo“, den ich mir in einem Anfall von Tollkühnheit gekauft habe, einem ganz ausgekochten (also wahrscheinlich „vyvarení“) Mädel „oblečte se!“ befiehlt, so muss ich zwar nicht mehr nachschlagen, sondern erkenne sofort die Verwandtschaft zum „oblek“ alias „Anzug“ und weiß, dass Maigrets Gegenüber sich anziehen soll – doch frage ich mich wegen der Nähe zum Verb „lekat“, das „erschrecken“ bedeutet, ob im „lek“ vom „oblek“ womöglich Adam und Evas erschreckende Erkenntnis enthalten ist, dass sie nackt sind und dringend einen Anzug benötigen, verliere über solchen Spekulationen den Faden meiner Lektüre und sehne mich nach einer Auszeit (die im Tschechischen nicht anders als „výčas“ heißen kann), um in ruhigen Mußestunden in einem etymologischen Wörterbuch auf Spurensuche zu gehen.
Sollten Sie als tschechischer Leser jemals einem Deutschen begegnen, der die Meinung vertritt, dass svíčková im Schein einer svíčka, also bei Kerzenlicht serviert werden sollte, dann wissen Sie, wen Sie vor sich haben. Mich, den Erleuchteten.