Mark Twain war nie in Böhmen
Über den sogenannten Passivrauch weiß die Menschheit heute sehr gut Bescheid. Vergleichsweise wenig erforscht ist hingegen das Passivlernen. Tatsache ist jedenfalls, dass an meiner Freundin mittlerweile Symptome erkennbar sind, die ich mir nur als Folge meines Aktivlernens erklären kann, und ich kann nur hoffen, dass sich die völlig regellose Ansammlung tschechischer Vokabeln in ihrem Sprachzentrum, die durch Passivlernen dort hineingeraten sind, nicht irgendwann als gesundheitsschädlich erweist.
Zu ihren unfreiwillig erworbenen Kenntnissen, von ihr selbst „Kollateral-Tschechisch“ genannt, gehören beachtlich viele Adjektive, insbesondere alle diejenigen, die von Fremdwörtern abgeleitet sind und im Deutschen auf „-isch“, im Tschechischen auf „-ický“ enden. So geschah es, dass sie an einem der letzten milden Herbsttage in einer Marienbader Buchhandlung unter Verwendung selbsterfundener grammatikalischer Fälle ein historisches Buch über Marienbad verlangte und auch bekam.
Eine Viertelstunde später saßen wir auf einer Lokalterrasse, vor uns zwei Eiskaffee und das reich illustrierte Buch, blätterten in der Marienbader Vergangenheit und stießen auf die dreiste Behauptung, dass am 16.8.1891 der amerikanische Journalist und Schriftsteller Mark Twain mit seiner Familie angereist sei.
Er ist mehrfach in Europa gewesen, das ist bekannt. Immerhin hat er darüber ein Buch geschrieben. Aber niemals, darüber waren wir uns einig, kann er auf in Böhmen gewesen sein, denn nur die deutsche Sprache kommt in seinem Reisebericht vor. „Wenn ein Deutscher“, schreibt Mark Twain, „ein Adjektiv in die Finger bekommt, so dekliniert er es und dekliniert es immer weiter, bis jeglicher gesunde Menschenverstand ganz und gar herausdekliniert ist“, und an anderer Stelle behauptet er, er habe einen ausländischen Studenten kennengelernt, der ihm sagte, er würde lieber zwei Drinks ausschlagen als auch nur ein deutsches Adjektiv beugen. Seine Lästereien tragen den Titel „Die schreckliche deutsche Sprache“, und er meint, ihrem Erfinder müsse es großen Spaß bereitet haben, sie in jeder nur denkbaren Weise zu verkomplizieren. Über die tschechische Sprache schweigt er merkwürdigerweise. Nun lebten zwar zu Twains Zeiten in Marienbad mehr Deutsche als Tschechen – aber eben nicht nur Deutsche. Sondern auch Tschechen. Und immerhin galt, als Twain angeblich dort weilte, schon seit zehn Jahren die Taaffe-Stremayr‘sche Sprachverordnung vom 19. April 1880, die den Gebrauch der tschechischen Amtssprache auch in den vorwiegend deutschsprachigen Gebieten Böhmens vorsah.
Wäre Mark Twain also wirklich in Marienbad gewesen, so müssten wir in seinem Werk unter dem Titel „Die noch schrecklichere tschechische Sprache“ etwa folgendes lesen: „Im Restaurant des Hotels ‚Esplanade‘ bestellte ich mir zum Mittagessen eine Forelle als ‚pstruh‘ und spuckte dabei versehentlich die Zahnprothese, die mir kurz vor der Abreise mein Zahnarzt in Hartford, Connecticut, eingesetzt hatte, quer durch den Saal. Der Kellner sagte mir, ich solle mich darüber nicht grämen; er selbst habe einmal beim Krawattebinden vor einem tschechischen zrcadlo eine schwere Zungenverknotung erlitten, die ihn ein deutsches Viertel, also ein tschechisches čtvrt, seiner Zunge gekostet habe, und er ziehe es seither vor, sich nur noch in einem deutschen Spiegel zu betrachten.“
Aber von solchen Dingen liest man in seinem Buch nichts. Und deshalb sage ich: Selbst wenn mir jemand das vergilbte Hotelanmeldeformular von damals präsentieren sollte, von Mark Twain eigenhändig unterschrieben, und dazu eine Sammlung all seiner satirischen Zeitungsfeuilletons über das Leben der Kurgäste in Marienbad – ich bleibe dabei: Mark Twain war nie in Böhmen. Denn wenn schon nicht mit Tschechisch, so muss er doch zumindest mit Kollateraltschechisch in Kontakt gekommen sein.