Die Tschechischtherapie
Man darf auf dieser Welt nichts, was nach Arbeit aussieht, “einfach so” tun. Die Leute wollen immer irgendwelche Gründe wissen. Da kam mir als Antwort auf die Frage, wieso ich Tschechisch lerne, das Sprichwort “Kolik jazyků umíš, tolikrát jsi člověkem” gerade recht. Frei übersetzt: “Du hast so viele Leben, wie du Sprachen sprichst.”
Schön und gut, sagten die Frager, aber unter all den möglichen Leben müsse doch nicht unbedingt ein tschechisches sein – warum nicht lieber ein sonniges spanisches Leben? Und ein Freund von mir meinte, wir hätten zu Schulzeiten unter dem lateinischen Leben schon genug gelitten, da fange man doch nicht freiwillig ein noch schlimmeres an.
Dabei betrachtete er die bunte Sammlung von Merkzetteln, die sich an der Wand meines Arbeitszimmers befindet. “Achtung!”, steht zum Beispiel auf einem der Zettel, “100 = sto, 200 = dvě stě, 300/400 = tři sta/čtyři sta, ab 500 = pět set, šest set, etc.”. “Soll das heißen, dass die Tschechen für die Zahl 100 vier verschiedene Wörter haben?” “Ist in Wirklichkeit nur ein Wort”, sagte ich. “Nur eben ein wenig unregelmäßig. Vielleicht, damit sich‘s besser reimt. Dvě auf stě und pět auf set … außerdem ist das in anderen slawischen Sprachen auch so ähnlich.” “Das haben die sich doch nur ausgedacht, um Ausländer in den Wahnsinn zu treiben – und du fällst darauf rein!” Wir wechselten das Thema.
Jetzt, nach einem halben Jahr Tschechisch, fragt mich keiner mehr nach meinem Warum und Wieso. Das ist schade. Denn jetzt würde ich sagen: Tschechisch hat einen hohen therapeutischen Wert für Menschen wie mich. Ich bin nämlich einer von diesen Idioten, die nicht “nein” sagen können, wenn es darauf ankommt. Aber mit Tschechisch werde ich‘s lernen. “Ich habe nichts bekommen” heißt auf Tschechisch “Nic jsem nedostal” – “Nichts habe ich nicht bekommen.” Und “Nikdo nepřijde”, “Niemand wird kommen”, heißt wörtlich: “Niemand wird nicht kommen.”
Das allein hätte mich natürlich noch nicht beeindruckt. Ich war mir eine Weile sogar sicher, dass die Oberbayern die Tschechen noch übertreffen. Nur einmal angenommen, ich befände mich in geselliger Runde und würde mir gern eine Zigarette anzünden, hätte aber kein Feuer dabei, so würde ich auf hochdeutsch fragen: “Hat jemand Feuer?” Und, falls ich keines bekäme, noch einmal folgendermaßen nachfragen: “Hat denn niemand Feuer?” Letztere Frage hätte im Bairischen nicht eine, sondern drei Verneinungen: “Hat denn koaner koa Zündhölzl ned?”
Dann aber stieß ich in einer Grammatiklektion auf einen Beispielsatz mit vierfacher Verneinung. Sowas gibt es nicht einmal in Bayern: “Nikdy mu nikdo nic neřekne”, zu Deutsch: “Nie ihm niemand nichts nicht sagt.” Oder, in vertrauterer Wortstellung: “Nie sagt ihm niemand nichts nicht.” Gemeint ist natürlich: “Nie sagt ihm jemand etwas.”
Ich habe daraus gelernt und werde im neuen Jahr jedem, der mich mit irgendeinem lästigen Anliegen überfällt, “Nein!” antworten und hinzufügen: “Ich nicht habe nicht keine Zeit nicht und auch nicht habe nicht keine Lust nicht!” Das ist mein fester Neujahrsvorsatz. Gelobt sei die Tschechischtherapie.