Doppeltes Trinkgeld
Die Gastronomie ist und bleibt ein unerschöpfliches Thema. Diesmal geht es ums Trinkgeld, das in Tschechien ein Schattendasein zu führen scheint und außerdem eine gewisse Seelenverwandtschaft zwischen Tschechen und Österreichern offenbart.
Irgendwann in der guten alten Zeit, als es noch D-Mark und Schilling gab, befand ich mich mit österreichischen Autorenkollegen in einem Wiener Vorstadtlokal. Am Ende des Abends belief sich die gesamte Rechnung auf 862 Schilling. Der Anführer unserer Truppe reichte dem Kellner, der uns über Stunden hinweg mit Speisen und Getränken versorgt hatte, einen 1000-Schilling-Schein und sagte, ohne mit der Wimper zu zucken: „870.“
Ich glaubte zuerst, ich hätte mich verhört. Als mir klar wurde, dass ich mich nicht verhört hatte, erwartete ich, dass der Kellner Ohrfeigen austeilen würde, aber er bedankte sich artig und gab 130 Schilling zurück. Als ich danach rügte, dass das Trinkgeld nicht einmal 1 % betragen habe und in diesem Zusammenhang erwähnte, dass ich mindestens auf 900, wenn nicht gar 950 aufgerundet hätte, fielen meine Tischgenossen über mich her. „Da sieht man wieder einmal die protzigen Bundesdeutschen mit ihren protzigen Trinkgeldern!“ hieß es. „Solche Trinkgelder kannst du vielleicht bei dir zuhause geben – aber nicht bei uns in Österreich!“
An dieses Erlebnis musste ich am Ende jenes Abends denken, den ich mit meiner Freundin und unserem gemeinsamen Freund Jirka in einem Pilsener Lokal verbracht hatte. Unsere Rechnung betrug 952 Kronen. Ich gab der Kellnerin einen Tausender und sagte „ist in Ordnung!“ Dabei bemerkte ich, wie Jirka leicht zusammenzuckte. Ich ahnte, warum. Auf dem Weg zur Bushaltestelle fragte ich ihn, wie viel denn er gegeben hätte, worauf er, ohne rot zu werden, „960“ erwiderte. Für mich brach zum zweiten Mal im Leben eine Welt zusammen. Hatte ich nicht erst unlängst in einer tschechischen Zeitschrift einen Kommentar zum Thema „Trinkgeld“ gelesen, dessen Verfasser die 10-%-Regel heraufbeschworen hatte? Und: hatte ich nicht erst kürzlich einen Disput mit einem tschechischen Freund geführt, der die Deutschen als „korunkáři“ bezeichnete, kleinliche Leute also, die jede Krone zweimal umdrehen?
Jirka erklärte mir ungefähr folgendes: Im Sozialismus hätte es ohnehin kein Trinkgeld gegeben. Trinkgeld wäre geradezu eine Beleidigung gewesen. Nach 1989 habe man sich nur langsam daran gewöhnt – hauptsächlich durch die Ausländer, die es nach ihren Gewohnheiten gaben. Und heutzutage? Heutzutage gebe er in einer Kneipe, die er regelmäßig frequentiere, überhaupt kein Trinkgeld, oder kaum welches; schließlich konsumiere er ja dort genug, und außerdem zahle er meist mit Karte, in diesem Falle sei Trinkgeld ohnehin nicht üblich. Da verstand ich, warum man in tschechischen Lokalen selbst dann, wenn man nur einen Kaffee getrunken hat, gefragt wird, ob man in bar oder mit Karte zahle; offenbar ist die Kartenzahlung ein beliebtes Mittel der Trinkgelddrückebergerei geworden. Sei er dagegen fremd im Lokal, so Jirka weiter, gebe er zwar Trinkgeld, aber eben in weit geringerem Ausmaß. Nur von Prager Schnöseln oder eben Ausländern wie mir werde mehr erwartet, weshalb ich ruhig weiterhin bei meinen fünf bis zehn Prozent bleiben solle.
Das Problem nagt aber weiter in mir. Wozu lerne ich denn seit fast zehn Jahren Tschechisch? Um mich im Land ganz normal bewegen zu können. Gleichzeitig möchte ich dem Gastronomiepersonal geben, was ihm meiner Ansicht nach gebührt. Ich habe also nur die Wahl, für einen typisch protzigen Deutschen gehalten zu werden, der mit großer Geste sein Geld nach allen Seiten hinauswirft, oder, wenn ich Trinkgelder nach tschechischem Tarif gebe, für einen typisch deutschen korunkář.
Erstaunlich bleibt, dass Trinkgeld in der tschechischen Sprache doppelt existiert, obwohl es oft nicht einmal einfach gegeben wird, sondern eher nach der Null-komma-null-Promille-Vorschrift der Straßenverkehrsordnung. Vielleicht, damit man die Wahl hat, was man nicht gibt – ob kein dýško oder kein spropitné.