bb-talk: Das Wahljahr 2021
Im Experten-Talk auf bbkult.net analysieren Journalisten und Politikwissenschaftler die Ergebnisse der Parlamentswahlen in Deutschland und Tschechien mit ihren überraschenden Regierungskonstellationen.
Das Wahljahr 2021 bot im Herbst zwei wichtige Wahlen: in Deutschland die Bundestagswahl, welche voraussichtlich eine neue Koalition hervorbringen wird , in Tschechien die Parlamentswahlen, bei denen zwei neu entstandene Koalitionen den bisherigen Premierminister stürzten.
Das Centrum Bavaria Bohemia (CeBB) veranstaltete hierzu einen bb-talk mit Gästen aus Tschechien und Deutschland. Auf der Bühne haben Journalisten und Politikwissenschaftler die Wahlergebnisse aus beiden Ländern analysieren und im grenzüberschreitenden Kontext interpretiert.
Die Veranstaltung fand ONLINE statt. Hier ist die Aufzeichnung des bb-talks zu sehen.
Wie sind die Perspektiven für die beiden Nachbarländer war eine der Fragen, die Moderatorin Bára Procházková den vier Experten stellte, denen eingangs Bavaria Bohemia e.V. Vorsitzender Landrat Thomas Ebeling sehr herzlich für die Teilnahme an der virtuellen Talkrunde des Centrum Bavaria Bohemia (CeBB) dankte. Von den über 60 Mio Wahlberechtigten in Deutschland gingen 76,6 % und zwei Wochen später in Tschechien knapp 8,5 Mio Wahlberechtigte (65,43 %) an die Urnen. Für unser Nachbarland eine um 4,5 % höhere Wahlbeteiligung als vor vier Jahren. Interessant trotz der unterschiedlichen Größe beider Länder: in Deutschland verfehlten die CDU/CSU, die sechzehn Jahre die Kanzlerin Angela Merkel stellte genauso wie in Tschechien die Bewegung ANO vom seit 2017 regierenden Ministerpräsidenten Andrej Babiš ihr Wahlziel, wieder die Regierung zu übernehmen. Alles ziemlich knapp, in Tschechien besonders ärgerlich für den amtierenden Premier, die Regierungsmacht trotz nur knapper Verluste an zwei Bündnisse mit drei und zwei Parteien abgeben zu müssen.
Am Tag des bb-talk am 09.11.21 vorerst das Aus für den Milliardär, der als zweitreichster Tscheche meinte, alle Karten seien auf seiner Seite. Staatspräsident Zeman beauftragte die Fünferkoalition unter Führung von ODS-Chef Petr Fiala eine Regierung zu bilden. Unter dem Dach der zusammen siegreichen Wahlbündnisse SPOLU und PaS haben sich fünf Parteien der linken und rechten Mitte mit der ODS (Bürgerdemokraten) als führender Kraft vereint. Darunter die Piratenpartei, als größter Unsicherheitsfaktor, als „Trouble maker“ apostrophiert. Im tschechischen Parteienspektrum spielen die Grünen, wie schon in den vergangenen Wahlen, auch 2021 keine Rolle, sie verfehlten die 5 % Hürde deutlich. Auch die Kommunistische Partei und eine Rechtsaußenpartei schafften nicht den Sprung ins Parlament. Wie in Tschechien und in vielen anderen europäischen Ländern sind auch in Deutschland die Zeiten für beherrschende (Volks-)Parteien jenseits der 30 % vorbei. „Der Zerfall der Parteienlandschaft ist deutlich zu sehen“ konstatiert der Regensburger Professor Jerzy Maćków. Der Journalist Pavel Polák spricht gar von einer Erosion. Mit der Folge der Spezialisierung auf Themen und gesellschaftliche Gruppen.
Die überraschenden Wahlergebnisse geben den vier Experten und der Moderatorin reichlich Stoff für Analyse, Bewertung und der Diskussion möglicher Auswirkungen auf die deutsch-tschechischen Beziehungen. In der Corona bedingt virtuell über bbkult.net veranstalteten Talkrunde kommen vier intensive Kenner der politischen Landschaft beider Länder zu Wort.
Beim Blick aus Deutschland und Bayern natürlich die Frage, für was stehen die fünf Parteien der neuen Regierungskoalition in Tschechien und umgekehrt die Neugier in Prag, was ist von den drei Ampelparteien SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP für die deutsch-tschechischen Beziehungen zu erwarten. Einig sind sich die Experten, dass von einer Regierungskoalition der fünf, im breiten Spektrum der politischen Mitte einzuordnenden Parteien, unter einem Ministerpräsidenten Petr Fiala (ODS) die deutsch-tschechischen Beziehungen und die europäische Zusammenarbeit eher profitieren. „Die neue Regierung in der Tschechischen Republik ist pro europäisch“ sagt Lukáš Novotný, „ohne jedoch auf den EURO umzuschwenken“.
Wie wird sich Tschechien zukünftig verorten: Als Osten des Westens, also als Teil der Mitte Europas oder als mehr als Land im Westen des Ostens, d.h. mit Distanz zu den Nachbarländern Deutschland und Österreich. Unter Fiala scheint die Richtung klar als erklärter europäischer Partner vorgezeichnet, nicht ohne seine Präferenzen, wie ein Ja zur Atomkraft und ein JA zur Tschechischen Krone als Währung aufzugeben. Hans-Jörg Schmidt sieht deutliche Unterschied in den politischen Schwerpunkten beider Länder. Klima ist in Tschechien lange nicht ein so beherrschendes Thema wie in Deutschland, auch in der Flüchtlingspolitik und in Energiefragen gibt es Differenzen. Kann es ein Tandem Scholz / Fiala geben, fragt Moderatorin Bára Procházková. Immerhin wohnt der Hamburger Olaf Scholz in Potsdam, viel näher an Prag als Aachen bei einem Kanzler Laschet. Hans-Jörg Schmidt sieht für die Zusammenarbeit im grenzüberschreitenden Kontext gute Chancen in Tschechien und Lukáš Novotný meint, dass Fiala gleich in den Schnellzug springen muss, die Krisen werden ihm keine Zeit für 100 Tage Schonfrist lassen. Das gleiche wird wohl auch für Scholz zutreffen.
Gäste
Grußwort: Landrat Thomas Ebeling, 1. Vorsitzender Bavaria Bohemia e.V., Trägerverein des Centrum Bavaria Bohemia (CeBB)
Moderatorin Bára Procházková
Jerzy Maćków
Leiter des Lehrstuhls für Vergleichende Politikwissenschaft (Mittel- und Osteuropa) an der Universität Regensburg
Lukáš Novotný
Dozent am Lehrstuhl für Politologie und Wissenschaftlicher Rat der Philosophischen Fakultät an der Jan-Evangelista-Purkyně-Universität in Ústí nad Labem
Pavel Polák
Auslandskorrespondent des Nachrichtenportals Deník N in Deutschland, 2017 erhielt er den deutsch-tschechischen Journalistenpreis
Hans-Jörg Schmidt
in Prag lebender deutscher Journalist und Buchautor, 2018 erhielt er den deutsch-tschechischen Journalistenpreis
Die Veranstaltung wurde im Projekt „Kultur ohne Grenzen“ durch den Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds und den Landkreis Schwandorf gefördert.