Hans-Dietrich Genscher | 13.11.09
[IMG_99] Der Außenminister der Bundesrepublik Deutschland im Jahr der Wende 1989/1990, stand am 13.11.2009 im Mittelpunkt der gemeinsamen Jubiläumsveranstaltung von IHK Regensburg und Regierung der Oberpfalz zu 20 Jahre Fall des Eisernen Vorhanges in Furth im Wald. Seine Bewertungen der Ereignisse vor 20 Jahren und die Schilderung der diplomatischen Vorgänge hinter den Kulissen wurde vom Audiotorium mit langanhaltendem Applaus begleitet. Sehr bemerkenswert die abschließende, in die Zukunft gerichtete Rede von IHK-Vizepräsident Thomas Hanauer mit dem Titel "Visionen für die Europaregion Ostbayern – Westböhmen". Hier der Redetext ... [IMG_98]
“Visionen für die Europaregion Ostbayern – Westböhmen” Rede von Dip. Ing. Thomas Hanauer, IHK-Vizepräsident und Geschäftsführer der Unternehmensgruppe emz-Hanauer GmbH & Co. KGaA anläßlich der Festveranstaltung der IHK-Regensburg und der Regierung der Oberpfalz zu 20 Jahre Fall des Eisernen Vorhangs.
Mehr und mehr wird in letzter Zeit von Europaregionen gesprochen. So eindeutig der Begriff “Europaregion” zunächst klingt, gibt es wohl in der politischen Tagesdiskussion durchaus verschiedene Meinungen dazu. Leichter tut man sich dann, wenn man visionäre Gedanken zur Konkretisierung der Grenzregion Ostbayern – Westböhmen als Europaregion vorstellen darf. Ich bin dankbar, dass ich das heute in aller Öffentlichkeit tun darf, ja dazu aufgefordert bin. Mag sein, dass meine Ausführungen zu einer weiteren Interpretationsmöglichkeit des Begriffs “Europaregion” führen. Wenn ja, dann ist das durchaus beabsichtigt.
Visionen richten sich in die Zukunft. Unmittelbar nach der Grenzöffnung war es jedoch die bis dahin bestehende Realität, die genug Stoff für Visionen bot. Man brauchte sich nur das Gegenteil von dem vorzustellen, was 40 Jahre lang entlang der Grenze Alltag war. Die Vision war schlicht die Herstellung normaler Verhältnisse. Das haben wir in den letzten 20 Jahren erreicht.
Was machen wir nun daraus?
Könnten wir mit dieser Normalität nicht zufrieden sein? Eine offene Grenze, eine friedliche Nachbarschaft, wir hier und ihr dort. Oder ist das doch zu wenig?
Es ist zu wenig. Denn ein nur Nebeneinander schließt Chancen aus, die sich aus einem Miteinander ergeben. Das haben die Beiträge, die wir heute gehört haben, eindringlich deutlich gemacht.
Die Zukunft der Oberpfalz und seiner Nachbarregionen liegt in Europa. Diese Chancen lassen sich nur gemeinsam nutzen. Miteinander, nicht nebeneinander.
Diese Botschaft ist in der Region angekommen. Das belegen viele grenzüberschreitende Initiativen und Aktivitäten in Politik und Verwaltung, Wissenschaft und Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft.
Das beweist nicht zuletzt auch die aktuelle Diskussion um Europaregionen.
Damit kommen wir zu einer Kernfrage: Was ist eigentlich eine Europaregion? Was muss man sich darunter vorstellen? Wie definieren wir uns als Europaregion?
Da stellen sich Fragen nach der räumlichen Ausdehnung und der inhaltlichen Gestaltung. Diese Diskussion müssen wir führen. Und diese Diskussion wird nicht einfach sein. Die Auseinandersetzungen, die wir in diesem Zusammenhang mit dem Begriff Ostbayern erlebt haben, lässt einiges befürchten. Folgt man der augenblicklichen Diskussion, könnte man Europaregion für eine neue Fördergebietskategorie halten oder für eine Art erweiterter Euregio .
Das wäre nach unserem Verständnis aber viel zu wenig und greift zu kurz. Nach meiner Auffassung ist Europaregion ein Standortprädikat und keine Zweckgemeinschaft zur Beschaffung von Fördermitteln.. Es zeichnet eine Region aus, die im europäischen Vergleich herausragt und prominente Besonderheiten ausweist.
Es bedarf in Europa wahrnehmbarer Größenordnungen wie Fläche, Bevölkerung, Inlandsprodukt, Unternehmenspotential.
Daneben müssen auch in qualitativer Hinsicht in den Bereichen Kunst und Kultur, Wissenschaft und Historie, europäische Ansprüche erfüllt werden können. Eine Europaregion sollte sich auch durch Internationalität auszeichnen, die sich nicht nur aus der Exportquote herleiten lässt.
Eine Europaregion, die diesen Namen verdient, braucht also eine Mindestgröße und Mindestausstattung, ein kritisches Potential an wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Ressourcen. Eine Europaregion ist nicht das Ergebnis aus der Addition vieler Kleinpotentiale. Sie zeichnet sich vielmehr aus durch Potentiale “aus einem Guss”, als Ergebnis vielseitiger und vielfältiger, innereuropäischer Kooperationen und Vernetzungen. Das muss unser Anspruch sein. Das ist in meinen Augen die Leitvision für eine Europaregion.
Wie können wir diesen Anspruch erfüllen?
Ich bin da optimistisch. Wir haben durchaus sehr gute Ansätze, die wir nur konsequent weiterentwickeln müssen.
Es sind heute schon viele Beispiele vorbildlicher grenzüberschreitender Zusammenarbeit genannt worden. Es ist wichtig, dass sich diese Prozesse gemeinsamer Willensbildung, gemeinsamer Handlungskonzepte und Initiativen auf allen gesellschaftlichen Ebenen mit hoher Dynamik weiterentwickeln, und so zu einer immer dichteren Vernetzung führen.
Einen vergleichbaren Integrationsprozess erleben wir zwischen Niederbayern, Südböhmen und Oberösterreich. Diese Bezirke sind nun auch unsere Nachbarn. Man muss auch über die oberpfälzisch, niederbayerische Grenze blicken. Was sich dann ergäbe – als Visionär darf man das ja – wäre in der Tat eindrucksvoll:
• Ein Lebensraum mit gut fünf Millionen Einwohnern so groß wie Dänemark;
• ein Wirtschaftsraum mit einer Wirtschaftsleistung von etwa 128 Milliarden Euro; das entspricht im Ranking der 27 EU-Mitgliedsstaaten etwa dem 16. Platz
• eine Region mit fast 53.000 qkm Fläche, Platz 10 im Ranking der EU-Staaten.
Das sind europäische Dimensionen. Und hinter diesen wenigen Zahlen steckt Qualität und Vielfalt, steckt europäische Geschichte und Tradition. Wir müssen es nur aufbereiten und Instrumente schaffen, um dieses Potential nach außen darzustellen und nach innen wirken zu lassen.
Die Prozesse, die in der Summe zu einer Europaregion führen können, laufen dezentral. Bezogen auf unseren Wirtschaftsraum müssen nicht die Aktivitäten zwischen Oberpfalz und Westböhmen und die zwischen Niederbayern, Südböhmen und Oberösterreich einheitlich und nach gleichem Muster und auch nicht in der Regie einer zentralen Stelle laufen. Entscheidend ist aber, dass alle das gemeinsame Ziel einer Europaregion im Fokus haben. Dass man sich auf gemeinsame Leitplanken einigt.
Europa lebt von der Vielfalt und ist geprägt durch Vielfalt. Das gilt natürlich auch für die Regionen in Europa. Europaregionen sind keine regionalen Monolithe; und sie definieren sich nicht nur über große Zahlen. Sie definieren sich aus einer Mischung großer Zahlen und der Summe vieler dezentraler Initiativen und Aktivitäten, die aus europäischer Sicht als Besonderheit wahrgenommen werden. So schaffen erfolgreiche Kooperationen zwischen Unternehmen, zwischen Unternehmen und Hochschulen und zwischen Hochschulen automatisch auch einen interessanten Arbeitsmarkt, der Fachkräfte aus allen Ländern Europas anzieht. Interessante Forschungsprojekte an Hochschulen locken Forscher und Wissenschaftler, und diese wiederum locken Unternehmen an den Standort einer Europaregion. Kooperationen auf kulturellem Gebiet und im Tourismus schaffen einen attraktiven Lebensraum. So ergibt eines das andere.
Und da stellt sich am Ende eine dritte Frage. Wie organisiert sich diese Europaregion? Die dezentralen Prozesse organisieren sich alleine. Aber um die Gestaltung der Rahmenbedingungen, der Infrastruktur und beispielsweise dem Standortmarketing muss sich jemand kümmern. Konkret das Standortmarketing für eine grenzübergreifende Europaregion muss mehr sein als nur die Addition einzelner Regionalmarketingaktivitäten.
Die Organisation einer Europaregion ist eine hoch politische Frage. Es geht schließlich um Kompetenzen, Befugnisse und Einflussnahmemöglichkeiten – und das länderübergreifend. Es geht um den ständigen Konflikt zwischen kleinräumiger Selbstbehauptung und großräumiger Notwendigkeit. Und es geht um den fairen Interessensausgleich innerhalb der Europaregion. Es ist zu befürchten, wenn die Europaregion nur als Zweckgemeinschaft zur Erlangung europäischer Fördergelder dienen soll, wird dieser Interessensgegensatz um so härter ausgetragen werden. Das aber kann letztlich nicht zum Erfolg führen – für niemanden!
Gelingt es uns nicht, diese Visionen zu verwirklichen und diese möglichen synergetischen Potentiale zu heben, besteht das Risiko, dass diese eher ländlich geprägten Regionen im europaweiten Wettbewerb abgehängt werden. Das hätte aus unserer Sicht schwerwiegende negative Folgen für uns in den Unternehmen und die Menschen die hier arbeiten und leben.
Es ist der Zeitpunkt gekommen, an dem Visionen in Taten umgesetzt werden müssen.
Darum werden wir auch in der Wirtschaft mit unseren grenzübergreifenden Initiativen weitermachen. Wir appellieren an die Politik, bei der Entwicklung einer Europaregion auch europäisch, und nicht nur förderpolitisch zu denken. Und wir appellieren an die Menschen, weiter ihren Beitrag zu einem friedvollen Miteinander in den Grenzregionen zu leisten. Dann werden wir es schaffen. Dann kommen wir genau dort an, wovon wir träumen: In einem europäisch geprägten , prosperierenden Wirtschafts- und Lebensraum, mit hervorragender Infrastruktur, in dem Forschung und Lehre von sich reden machen; in eine Region, mit reichem kulturellen Erbe, mit intakter Natur, in der sich hervorragend leben und arbeiten lässt. Deshalb siedeln sich Unternehmen hier an, und gibt es einen international erfolgreichen Mittelstand. Die Region hat einen hervorragenden Ruf in Europa und ist deshalb begehrt. Hochqualifizierte Fachkräfte und renommierte Forscher arbeiten und lehren hier. Die Region gilt etwas in Europa. Und einen Namen hat sie dann vielleicht auch.





