Jubiläum OGO / Schulpartnerschaft mit Prag

Aus meinen Reiseerinnerungen vom Spätsommer des Jahres 2000 - Auf der Bahnstrecke irgendwo zwischen Budweis und Krummau: Der Zug schnauft sich von Dorf zu Dorf, vorbei an schwer beladenen Obstbäumen, an Fischweihern, die im Sonnenlicht glitzern, vorbei an Häuserruinen – im Garten ist ein Ziegenbock an einen Traktorreifen festgebunden. Nur eine Wäscheleine (behängt!) und von der Dachrinne eines Bretterverschlags zu einem Birnbaum gespannt, lässt mich vermuten, dass hier jemand wohnt. Im Abteil ein altes Mütterchen mit Kopftuch und einem großen Korb frisch gesammelter Pilze auf dem Schoß; daneben eine Roma-Familie; Kinder mit großen dunklen Augen und blauschwarzem Haar... Verehrte Festgäste, liebe Wegbegleiter meiner Schulzeit, meine sehr geehrten Damen und Herren, MILAN KUNDERA sagt in seiner "Unerträglichen Leichtigkeit des Seins": "Soll die Liebe unvergesslich sein, so müssen sich (…) Zufälle auf ihr niederlassen wie die Vögel auf den Schultern des Franz von Assisi." Ein wohlmeinender Zufall (unterstützt durch das deutsch-tschechische Koordinierungszentrum Tandem Regensburg-Pilsen) schickte zufällig mich, die ich mir die Zeit zwischen Abitur und Studienbeginn für bereichernde Zufälle frei gehalten hatte nach Krummau (Český Krumlov) in Südböhmen. Am dortigen Gymnasium bestand zufällig Bedarf an einer Lektorin für den Deutschunterricht. Böhmen und ich, wir hatten uns nicht auf den ersten Blick ineinander verliebt. Sie kennen das vielleicht – da lebt man viele Jahre nebeneinander her und findet sich schlicht uninteressant. Außerdem knüpft der Oberpfälzer ohnehin keine vorschnellen Kontakte, sondern wartet lieber ab. Und so wartete ich von Kindheit an – und es kam für mich die Zeit am Ortenburg Gymnasium und mit ihr die Möglichkeit, am Schüleraustausch teilzunehmen. Libourne und Prag. Für mich kein "Entweder-Oder", sondern ein "Sowohl-Als auch". Von Oberviechtach aus blickte ich nach Westen und nach Osten - über den Rand meiner tiefen Oberpfälzer Suppenschüssel hinweg. Im Westen: die Loire-Schlösser, das Périgord, Austern-Experimente, französische Chansons, Crème Brullée, Rotwein aus St. Emilion, Montmartre in Paris, die Franzosen und ihr SAVOIR VIVRE .. und eine überaus herzliche Gastfamilie... je ne regrette rien. Im Osten: Burg Karlštejn, die Moldau (der Fluss und die Komposition), česnečka a jahodové knedlíky (Knoblauchsuppe und Erdbeerknödel), die Weihnachtsmesse des Jan Jakub Ryba, die Prager Kleinseite, der Lipno-Stausee, böhmisches Kristall, die tschechische Ironie und …….eine überaus herzliche Gastfamilie…. Vitam vás, paní Maierová! Eine mir wichtige Anmerkung am Rande: Die Austauschprogramme mit Frankreich und Tschechien sind mit einem gewaltigen Organisationsaufwand verbunden. Ihn können nur Leute tragen, deren Herzblut an der Sache hängt. Und im Idealfall bringen sie den Funken zum Überspringen – DANKE! Zurück zu Kundera, den Zufällen und Český Krumlov: Meine Zöglinge heißen Jakub, Alena oder Katka; sie bemühen sich redlich, mir das ř in Břeslav beizubringen. Im Klassenzimmer hängt ein Schild mit der Aufschrift POZOR VZTEKLINA - Vorsicht Tollwut! – an der Wand und auf dem Pult steht als Ratschlag für den Lehrer geschrieben "Zum Abreagieren bei einem Wutanfall bitte hier mit dem Kopf aufschlagen". Tschechische Schüler lesen Kafkas "Brief an den Vater" und "Die Ermittlung" von Peter Weiss; sie spielen mindestens ein Musikinstrument, kennen die böhmische Geschichte unter exakter Angabe von Daten und Latein ist ihnen ein Gräuel. Sie finden den Klang des deutschen "Ich-liebe-dich" wesentlich härter und unromantischer als das gleichbedeutende tschechische "miluvu tě". Ihr Traum, einmal an einer Hochschule studieren zu können ist andernorts eine selbstverständliche Option, die oftmals nur aus Mangel an originelleren Einfällen gewählt wird. Karel Jaromir Erbens schaurige Balladen von der bösen, Kinder mordenden "Mittagshexe" (Polednice) oder von Vodník, dem Wassermann gehören genauso zu ihrer Kindheit wie der Anblick des Weihnachtskarpfens, der noch am Vormittag vor dem Festessen die letzten Runden seines Lebens in der Badewanne dreht. Ich konnte in Krummau viele wertvolle, mein Denken bereichernde Kontakte knüpfen – etliche davon rein zufällig - und spätestens seit diesem Aufenthalt in Südböhmen lässt mich die Faszination für das Land und seine Bewohner nicht mehr los. Kunderas Vögel hatten sich auf meinen Armen niedergelassen. Während meiner Studienzeit in Regensburg absolvierte ich das Bohemicum, eine zweisemestrige Zusatzausbildung in tschechischer Sprache und Kultur. Engagierte tschechische wie deutsche Dozenten bemühten sich, uns Studierenden durch ein äußerst reichhaltiges Angebot an Veranstaltungen uns einen möglichst facettenreichen Einblick in die tschechische Seele zu gewähren: Angefangen von böhmischer Geschichte über Literatur, Architektur, wirtschaftliche und politische Verhältnisse bis hin zu intensivem Sprachunterricht. Auf zahlreichen Ausflügen ins Nachbarland studierten wir Tschechien vor Ort. Am Ende der Ausbildung stand der vierwöchige Besuch der Sommer-Sprachschule an der Masaryk-Universität im mährischen Brünn. Das Verhältnis zwischen Böhmen und Mähren entspricht in etwa der bayrisch-preußischen Hassliebe: Man meidet sich, und doch braucht man einander, um sich gegenseitig zu einer sinnvollen Einheit zu ergänzen. Wir sangen mährische Volkslieder, tranken Rotwein aus dem südmährischen Znojmo, wir besuchten den Freiherrn von der Trenck an seinem Glassarg, sahen skurille Filme eines Jan Švankmejer (und konnten wenig Zugang zu ihnen finden)…Wortschatz übten wir durch die Lektüre tschechischer Frauenzeitschriften und die Aussprache mit Zungenbrechern und Kinderreimen. Amüsanterweise kommt man in Brno mit deutschem Vokabular aber auch voran. Der ehemals relativ stark ausgeprägte deutsch-tschechische Bilingualismus hat in Wörtern wie "ksindl" (Gesindel), "kšeft" (Geschäft), "mord" und vielen mehr seine Spuren hinterlassen. Man könnte fast meinen, erst die Deutschen und Österreicher hätten krumme Geschäfte, Mord und Totschlag nach Tschechien gebracht…Zumindest sprachlich. Vor allem aber hatten wir Unterricht in "Praktischer Lebensführung": Als Ausländer in der Tschechischen Republik, meine Damen und Herren, kann man eine Menge falsch machen: Versuchen Sie nie, eine tschechische Wohnung mit Straßenschuhen zu betreten! Der Besitzer wird davon nicht sehr erbaut sein! Neigen Sie beim Genuss eines türkischen Kaffees die Tasse nie um mehr als 90 Grad, wenn Sie nicht wollen, dass Ihnen der Kaffeesatz im nächsten Moment im Gesicht klebt! Seien Sie nie so unhöflich, eine Bierstube schon nach einem Bier zu verlassen, ohne dem Kellner die Chance gegeben zu haben, Ihnen unaufgefordert ein neues Glas hinzustellen! Machen Sie sich als Touristengruppe im Restaurant nicht unbeliebt, indem sie jeweils getrennt zahlen, und sich dann auch noch das Rückgeld auf den Heller genau herauszählen lassen! Hüten Sie sich, ständig zu betonen, wie außerordentlich schön und einzigartig die Hauptstadt Prag sei – es sei denn, Sie sprechen mit einem Prager! Zurück in Regensburg, zog es mich schon bald wieder gen Osten: Diesmal nach Pilsen. Der junge deutsch-tschechische Verein "Treffpunkt Löwenhöhle" mit Sitz in Domažlice und Furth im Wald veranstaltet seit mehreren Jahren regelmäßig Sprachkurse für Tschechen und Deutsche. Man bringt sich sozusagen im Tandem-Prinzip gegenseitig die jeweils andere Sprache bei. Einige professionelle oder auch weniger professionelle Lehrkräfte (darunter auch ich) unterfüttern diesen Sprachunterricht mit der notwendigen trockenen Theorie. Zudem gibt es ein vielseitiges Rahmenprogramm. (Der nächste Kurs dieser Art findet um Ostern 2005 in Pilsen statt!). Gelegentlich frage ich mich selber, was es ist, das mich an diesem Land so fesselt: Schuld an allem ist jedenfalls mein Hang zur Nostalgie, der den Fisch in der Badewanne so rührend findet, und die Tatsache, dass es die Anrede "Fräulein" noch gibt, und der Lehrer am Gymnasium "Professor" heißt. Oder, dass für den Theater- oder Konzertbesuch noch Abendkleid und Frack angesagt sind. Vielleicht ist es das schrille Pfeifen der herannahenden Eisenbahn, die so an den meist unbeschrankten Bahnübergängen auf sich aufmerksam macht. Sicher sind es auch die jungen Leute, die am Wochenende in die "chalupa", das Wochenendhaus fahren, am Lagerfeuer sitzen und an der Weltverbesserung arbeiten. Keine schon ermattenden Jungkonsumenten, sondern Leute mit Ideen und Idealen im Kopf. Möglicherweise ist es auch die Eigenart in der tschechischen Kommunikation, für alles und jeden stets die Verkleinerungsform zu gebrauchen. Bei den Tschechen ist alles klein: Das "Bierchen", das mit "Krönchen" bezahlt wird, und zwar nicht von Hans sondern von "Hänschen" und über allem lacht das "Sönnchen". Ganz sicher ist es auch der sehr zynische, hintergründige, fast unterschwellige tschechische Humor, der mich reizt und es ist die tiefe Melancholie, aus der heraus trotz allem immer Hoffnung und Optimismus spricht: Dazu Alexandr Kliment in seiner "Langweile in Böhmen": "Die Welt rings um mich ist allerdings scheußlich. Banalität, Kitsch und Unrat verschlingen Stadt, Dorf und freies Feld. Hast du nicht auch den Eindruck, dass wir auf einer Müllkippe wohnen? Aber zum Glück kenne ich meine Pfade und weiß von ausgesparten Oasen, wo ich mich wohl fühle, und es gibt ihrer genug. Die Prager Altstadt, die Kleinseite, der Hradschin, vergeistigte Gartenarchitektur. (…) Das Königreich der südböhmischen Landschaft. Ein gutes Buch, ein gelungenes Bild, ein bisschen Musik und ein bisschen Wein." Zitat Ende. Und ein bisschen Kaffee, würde ich hinzufügen – habe ich doch eine Schwäche für Städte mit einer gediegenen Kaffeehaus- und Literatenkultur wie eben PRAG, aber auch Wien oder München, wo ich jetzt lebe. Ich dachte mir, etwas mehr räumlicher Abstand zur tschechischen Grenze wäre gut, um vor diesem Land im Osten einmal Ruhe zu haben – doch was passiert? Wie aus dem Nichts ruft die Stimme meines ehemaligen Schuldirektors zu mir: Ich möge doch von meinen tschechischen Stationen erzählen… Verstehen Sie mich nicht falsch, lieber Herr Wurm, es ist mir eine Ehre, heute hier zu sein. Ich bin sehr gern gekommen! Es gibt Menschen, die beim Blick über die Grenze als erstes Gartenzwerge sehen und Bordelle und Zigeuner auf Planwagen, die Organe rauben und Hunde grillen; je nach Bildungsstand sehen sie auch die Beneš - Dekrete und Braunkohlekraftwerke. Solche Leute fragen mich dann, ob ich denn in Tschechien keine Angst hätte. Doch! Die habe ich bisweilen. Die Angst, eines Tages tatsächlich dort hängen zu bleiben. Danke!