Du Ochse!
Ende Februar gab es im Nürnberger Filmhauskino ein kleines tschechisches Filmfestival, und wäre mein Terminkalender seither nicht permanent zu voll gewesen, hätte ich natürlich schon längst darüber geschrieben. Alle Filme liefen im Originalton mit deutschen Untertiteln, und zwei von denen, die ich gesehen habe, haben mich besonders beeindruckt: Občanský průkaz („Der Personalausweis“) und A bude hůř („Und es kommt noch schlimmer“). Letzterer wegen seines harten, rohen Realismus, beide wegen ihrer berührenden Mischung aus Tragik und Komik – und beide schließlich auch in sprachlicher Hinsicht.
Dazu ist ein kleiner Exkurs nötig. In den meisten Lehrbüchern und Reiseführern wird nicht versäumt, auf einen ganz bestimmten tschechischen Ausruf hinzuweisen, der keineswegs als Beleidigung zu verstehen sei, sondern zum Ausdruck von Überraschung, Anerkennung oder auch einfach bloß so verwendet wird: „Ty vole!“, wörtlich „Du Ochse!“, sinngemäß etwa „Oh Mann!“, „Mannomann!“ oder „Ey, Alter!“ Obwohl ich diesen Ausruf ganz lustig fand, habe ich ihn nicht in meinen aktiven Wortschatz integriert. Zum einen habe ich stets Bedenken, mein Tschechisch könnte sich nach Kindersprache anhören, und da paßt „Ty vole!“ nicht wirklich dazu. Zum anderen habe ich in Tschechien überwiegend mit Menschen zu tun, die ich sieze, also müßte ich eigentlich „Vy vole!“ sagen, was wahrscheinlich wirklich eine Beleidigung ist. Außerdem war mir nicht klar, wie häufig „Ty vole!“ verwendet wird. Sagt man das ungefähr einmal pro Woche? Oder doch alle zwei Minuten?
Ich begnügte mich also damit, diese Formulierung zu kennen, und deshalb kam sie mir nicht einmal an jenem Wochenende über die Lippen, als ich mich mit einem guten Freund gegen 3 Uhr morgens in einer kleinen Pilsener Kneipe befand, in die wir auf ein letztes Bier hineingestolpert waren, und einen der Gäste fragte, welche Musik gerade läuft, obwohl vermutlich genau das die richtige Situation für ein zünftiges „Ty vole!“ gewesen wäre – „geile Musik, du Ochse! Wie heißt denn die Sängerin, du Ochse?“
An dieser Stelle zurück zum tschechischen Filmfestival. Was mich neben den genannten Qualitäten der Filme beeindruckte, war die exorbitant hohe „Ty vole!“-Frequenz in den Gesprächen der Protagonisten; es gab sogar Situationen, in denen „Ty vole!“ in jedem Satz mehrmals vorzukommen schien. So also muß ich es machen, dachte ich, damit mein Tschechisch authentisch klingt. Kein Tscheche wird mehr bemerken, daß ich Ausländer bin, denn ab jetzt werde ich jede kleine Pause in meinem Redefluß, die entsteht, weil ich kurz über das richtige Wort oder über den richtigen Fall nachdenken muß, mit „Ty vole!“ füllen.
Mein erstes Opfer wurde Jana, als wir wieder zu unserem deutsch-tschechischen Privatstammtisch zusammentrafen. „Hallo Jana, ty vole! Wie geht‘s in der Arbeit? Viele, ty vole, Überstunden gehabt, ty vole? Was macht die Chefin, ty vole? Schlecht gelaunt wie immer, ty vole?“
Jana war schockiert, um es gelinde auszudrücken, und erklärte mir, daß man „Ty vole!“ erstens nur unter Männern sage und zweitens die Blütezeit von „Ty vole!“ in den 70er und 80er Jahren gewesen, jetzt aber der Ausdruck etwas außer Mode gekommen sei.
Aber was höre ich da? Hat meine Freundin, die suchend in der Wohnung auf und ab geht, nicht eben „Ty vole!“ gesagt? Haben die Filme auch auf sie abgefärbt?
„Gewöhn dir das bloß wieder ab!“, sage ich. „Wir sind hier nicht in einer tschechischen Vorstadtkneipe!“
„Bitte?“ Verwirrt sieht sie mich an. „Ich suche die Wolle! Hast du sie nicht gesehen?“
Elmar Tannert